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Opern-Kritik: Staatsoper Berlin – Jenůfa

Musik als Möglichkeitsform

(Berlin, 13.2.2021) Sir Simon Rattle und Damiano Michieletto verständigen sich bei Janáček auf ein hoch sensibles Musiktheater des dritten Wegs – und glauben noch ans Utopische.

vonPeter Krause,

Dieser aseptisch gleißend weiße Raum aus Plexiglas erstickt jegliche Privatheit, geschweige denn Intimität, bereits im Keim. Natürlich ist auch jeglicher dörflich bäuerliche Folklorismus aus ihm zur Gänze entwichen. Leoš Janáčeks mährische Nationaloper, sein drittes Werk fürs Musiktheater und sein erster echter Erfolg, weitet sich dank der Bühne von Paolo Fantin und der Regie von Damiano Michieletto ins Allgemeingültige einer spießbürgerlich repressiven Gesellschaft, die durch die Kostüme von Carl Teti in die sittenstrenge Nachkriegszeit der 50er Jahre des 20. Jahrhunderts verlegt scheint. Rigide, aber eigentlich gut gemeinte Moralvorstellungen sichern den Rahmen des Zusammenlebens. Wen wundert’s, dass die Küsterin des Dorfs, die schon mal den Pfarrer vertreten muss, zur Wächterin des Regelwerks wird. Jedenfalls soll bei ihr Zuhause im heimischen Hort des Anstands bloß nichts anbrennen. Für die Schande des unehelichen Kindes ihrer Stieftochter Jenufa muss es also eine Lösung geben. Und wenn letztere ihrerseits nichts anderes als eine christliche Todsünde verlangt: die Tötung des Babys.

Durch Mitleid wissend: Wie der Regisseur das Aktuelle im Archetypischen aufspürt

Camilla Nylund (Jenůfa) und Ladislav Elgr (Števa Buryja)
Camilla Nylund (Jenůfa) und Ladislav Elgr (Števa Buryja)

Damiano Michieletto schafft in seiner Neuinszenierung an der Staatsoper Unter den Linden Berlin mit der als Live-Stream im Internet sowie als Fernsehübertragung bei 3SAT gefeierten Premiere eine fast schon rar gewordene Mischung von Theatertugenden: Seine präzise, psychologisch ausgefeilte Personenregie zeugt von absoluter handwerklicher Beherrschung und sie lauscht dabei jeder Nuance der Partitur und ihrem Ton der Empathie für all die menschlichen Abgründe, die sich in dieser Geschichte auftun. So wenig Leoš Janáček über die Doppelmoral der Küsterin richtet, so wenig muss es der Regisseur tun. Komponist und Regisseur leiden gleichsam gemeinsam mit. Michieletto und seine Ausstatter finden Bilder, die im Archetypischen das Aktuelle aufspüren, etwa wenn sie das Eis, unter dem der tote Knabe im Frühling auftaucht, zur zentralen Bühnenmetapher des finalen Aktes machen: Ein umgekehrter Eisberg drückt sich mit der Spitze nach unten langsam durch die Decke, immer mehr Wasser tropft daraus am Ende auf die Küsterin hinab – als ein dialektisch doppeltes Zeichen: Die Wahrheit ihres Verbrechens kommt ans Licht. Und die vereisten Seelen der Dorfgemeinschaft erhalten nach all den Verkrustungen der Vergangenheit die Chance auf Verflüssigung, womöglich gar Auflösung, Erlösung.

Poetischer Realismus

Poesie und Realismus gehen hier fruchtbar Hand in Hand. Und Michieletto beweist, dass es einen klugen dritten Weg zwischen deutschem Regietheater mit seinem Dekonstruktionsfuror und italienischer Opernbebilderung mit seiner sängerischen Statik gibt. Michieletto hat in der Tat in beiden Opernwelten Erfolg – nicht als Kompromisskandidat, sondern als ein Künstler, der Kunst kann, will sagen, der aus Werk-Kenntnis und Werk-Respekt heraus seine Deutungsfantasie gebiert, die er dann mit enormer Detailgenauigkeit zu realisieren weiß.

Sängerdarsteller von Weltformat

Evelyn Herlitzius (Die Küsterin Buryjovka), Hanna Schwarz (Die alte Buryjovka), Victoria Randem (Jano) und Stuart Skelton (Laca Klemeň)
Evelyn Herlitzius (Die Küsterin Buryjovka), Hanna Schwarz (Die alte Buryjovka), Victoria Randem (Jano) und Stuart Skelton (Laca Klemeň)

Grandios, wie er mit ganz starken Sängerdarstellern die Figuren formt. Camilla Nylund, die als Jenufa mit langen blonden Haaren zu Beginn der Handlung eine rote Decke für ihre bald geborenes Baby strickt, darf sich in den zwei spannungsprallen Stunden vom unbedarften Mädchen und Opfer, das sich in den komplett Falschen verguckt hat, zu einer ihrer selbst bewussten jungen Frau entwickeln, die ihr Leben selbst in den Griff kriegt und ihm die entscheidende positive Wendung verleiht. Mit ihrem anrührenden Marschallinen-Sopran vollzieht Nylund diese Wandlung kontinuierlich nach. Ladislav Elgr ist mit seinem fast immer eine Spur übersteuert gefährdetem, enorm vehementen Heldentenor ihr präpotent toller Hecht Steva, der über ein Übermaß an Gewaltpotential und Reizbarkeit wie an Hormonen verfügt. Das männliche Gegenbild gibt Stuart Skelton mit seinem deutlich anschmiegsameren jugendlichen Heldentenor und leiht Laca, der Jenufa am Ende in ein neues Leben und eine in einer besseren Welt auch wirklich möglichen Liebe führt, den sympathisch tumben Charme eines Parsifal. Evelyn Herlitzius gibt der Küsterin die konzentriert intensive Sopranschärfe einer kalt gewordenen, strengen oder doch einfach nur prinzipienfesten Frau, die durch die Moral der Kirche ein Leben lang geprägt wurde. Hanna Schwarz ist mit wieder einmal raumgreifender physischer wie vokaler Präsenz die Alte Burya, die sie, wie so oft in ihren späten Sängerinnenjahren, zu einer weiteren Hauptfigur aufwertet.

Sir Simon Rattle glaubt an Janáčeks musikalische Utopie

Stuart Skelton (Laca Klemeň), Evelyn Herlitzius (Die Küsterin Buryjovka) und Camilla Nylund (Jenůfa)
Stuart Skelton (Laca Klemeň), Evelyn Herlitzius (Die Küsterin Buryjovka) und Camilla Nylund (Jenůfa)

Mit Sir Simon Rattle steht ein Star am Pult der Staatskapelle Berlin, der nicht nur familiär bedingt genau weiß, wie tschechische Musik zu klingen hat. Er entwickelt eine sensible Sogkraft, modelliert feine Farbwerte und entdeckt uns vielseitige Querverweise – etwa von Janáček zur psychischen Polyphonie eines Richard Strauss wie zum impressionistischen Filigran eines Debussy. Man hört und man sieht an diesem ganz starken Abend, wenn auch leider noch nicht wieder im Saal der Lindenoper sitzend, die ganze Essenz des großen Werks, das Sänger, Dirigent, Orchester und Regieteam in seltener Eintracht für uns herausschälen. Da werden dann auch bei aller visuellen Reduktion die wenigen Requisiten wieder wirklich sprechend: der Bonsai-Hausaltar, die Wiege mit dem Kind, die rote Decke, Lacas Messer. Und so spüren wir am verblüffend versöhnlichen Ende eben auch die ganze utopische Schicht in Janáčeks Musik. Es ist eine Musik der Möglichkeitsform, die zu sagen scheint: Es könnte alles anders sein. Und dieses nicht mehr ganz junge Paar hat jetzt die Chance, es anders zu machen. Und besser.

Staatsoper Unter den Linden Berlin
Leoš Janáček: Jenufa

Simon Rattle (Leitung), Damiano Michieletto (Regie), Paolo Fantin (Bühne), Carla Teti (Kostüme), Hanna Schwarz, Stuart Skelton, Ladislav Elgr, Evelyn Herlitzius, Camilla Nylund, Jan Martiník, David Oštrek, Natalia Skrycka, Evelin Novak, Aytaj Shikhalizada, Adriane Queiroz, Victoria Randem, Anna Kissjudit, Staatsopernchor, Staatskapelle Berlin

Bis zum 15. März ist die Oper im Stream-On-Demand abrufbar.

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