Wenn Jonas Kaufmann mit der Puppe kuschelt

Die Pariser Oper befragt ihre Stücke, aber auch ihre Ensembles künftig auf deren «diversité». Der gutgemeinte Ansatz treibt in der Praxis skurrile Blüten.

Michael Stallknecht
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Darf eine Aida so blond sein wie jüngst Sondra Radvanovsky an der Pariser Opéra Bastille? Und ist diese Frage überhaupt wichtig für ein Stück, in dem es um eine äthiopische Prinzessin geht?

Darf eine Aida so blond sein wie jüngst Sondra Radvanovsky an der Pariser Opéra Bastille? Und ist diese Frage überhaupt wichtig für ein Stück, in dem es um eine äthiopische Prinzessin geht?

Vincent Pontet

Die Äthiopier tragen ihren europäischen Namen bereits bei Homer. «Aithi-opes», «die (sonnen)verbrannt Aussehenden», nannte sie der antike Barde, weil sie ein wenig dunkler daherkamen als der damalige «Standardgrieche». In der jüngsten Inszenierung von Verdis «Aida» an der Opéra National de Paris sind die Äthiopier eher grau geraten, was sie ein bisschen zu steinzeitlich ausschauen lässt für ihren Konflikt mit den ägyptischen Pharaonen, von dem die Oper erzählt. Doch bei Lotte de Beer, der Regisseurin der Streaming-Premiere, stammen sie ohnehin allesamt aus dem Museum, genauer: aus der ethnologischen Abteilung.

Eine Gesellschaft des späten 19. Jahrhunderts erfreut sich dort an ihnen, womit die Inszenierung deren kolonialistischen Blick kurzerhand mit der Versklavung Aidas durch die antiken Ägypter gleichsetzt. Bewegt werden die äthiopische Prinzessin und ihr Vater Amonasro von Puppenspielern, denen die Sänger der Rollen hinterherlaufen. Die in Äthiopien lebende Künstlerin Virginia Chihota hat die Skizzen für die Puppen entworfen.

Uff, alles richtig gemacht, hört man sich vor dem Bildschirm seufzen: Verdis musikalisches Sandalenepos säuberlich im Museum parkiert, kulturelle Aneignung durch Einbindung nichteuropäischer Künstler vermieden und vor allem: kein Blackfacing, weder für die Äthiopier noch für die etwas weniger sonnenverbrannten Ägypter, bei denen Maskenbildner bis vor kurzem ebenfalls noch gelegentlich in den Schminktopf griffen.

«Kontinentalsport in Amerika»

An Frankreichs grösstem Opernhaus ist der künstliche Sonnenbräuner für Sänger und Tänzer in Zukunft verboten, auch bei älteren, noch gespielten Produktionen. Ebenso das «Yellowfacing», also die falschen Chinesen und Japaner beispielsweise in Giacomo Puccinis «Turandot» oder «Madama Butterfly». So will es ein «Rapport über die Diversität an der Opéra National de Paris», den Alexander Neef, der neue Leiter des Hauses, in Auftrag gegeben hat.

Neef reagierte damit auf ein «Manifest zur Rassenfrage» am selben Haus (ja, es heisst tatsächlich so), das einige Ensemblemitglieder im Sommer aufgestellt hatten. Manche Stücke würden unzweifelhaft verschwinden, so wurde der frischgebackene Intendant bereits im Vorfeld zitiert – was er laut der Tageszeitung «Le Monde» zwar nach einem Interview autorisiert, aber anschliessend doch nicht ganz so gesagt haben wollte. Werke verschwinden zu lassen, erinnere an die Cancel-Culture, urteilte daraufhin «Le Monde», also an «den Kontinentalsport in Amerika seit fünf Jahren».

Neef, ein Deutscher, hat zuvor die Canadian Opera Company in Nordamerika geleitet, wo Fragen der Identitätspolitik seit «Black Lives Matter» mit einer unvorstellbaren Wucht auch die gute alte Oper erreicht haben. Ende Januar hat etwa die New Yorker Metropolitan Opera als erstes amerikanisches Opernhaus eine eigene Chief Diversity Officer eingestellt. Die Schaffung einer vergleichbaren Stelle hat Neef nun auch für Paris angekündigt. Werden in Zukunft an den Opernhäusern Kulturkommissare darüber entscheiden, was noch gespielt werden darf und von wem?

Längst erledigt

Ganz so radikal gibt sich der sechsundsechzig Seiten starke Rapport dann doch nicht. Erstellt hat ihn Constance Rivière, eine sozialistische Politikerin und Generalsekretärin des Amts zur Verteidigung der Grundrechte, gemeinsam mit Pap Ndiaye, einem schwarzen, auf Diskriminierungsfragen spezialisierten französischen Historiker. Die beiden Autoren wissen um die historische Bedingtheit des Opern- und Ballettrepertoires und möchten «künstlerisches Schöpfertum nicht durch strikt soziale Erwägungen beschränken».

Dennoch klingt es bisweilen ziemlich technokratisch, wenn man liest, auf welche Weise alle Ensembles der Pariser Oper in Zukunft diverser werden sollen. So hat etwa im Orchester das seit langem übliche Probespiel hinter einem Vorhang zwar den Frauenanteil massiv erhöht, nicht aber den von schwarzen Musikerinnen und Musikern. Rivière und Ndiaye möchten deshalb an den Konservatorien ansetzen und bei migrantischen Milieus bis in die Familien hineinwirken, damit sie mögliche Vorurteile abbauen und ihre Kinder ebenfalls auf Konservatorien schicken. Vor allem das Pariser Ballett soll sich wandeln, indem Anwärter für die angegliederte Tanzschule künftig in aller Welt gesucht werden.

Unwillkürlich beginnt man bei dem «Aida»-Stream einmal selbst nachzuzählen: Soloman Howard, der Sänger des Pharao, ist schwarz; dazu zwei der Puppenspieler und mindestens einer der Choristen; die amerikanisch-kanadische Sopranistin Sondra Radvanosky als Aida ist dagegen ziemlich blond und weiss, der Deutsche Jonas Kaufmann als ägyptischer Feldherr Radamès von Haus eher ein dunkler Typ. Dass im Chor der Oper sichtbar viele Asiaten singen, vor allem Koreaner, wie der Bericht bestätigt, scheint für seine Autoren dagegen nicht so richtig als divers zu zählen.

Es ist das alte Dilemma der Identitätspolitik, dass sie Aufmerksamkeit für Fragen der Hautfarbe hervorbringt, die im immer schon international ausgerichteten Opernbetrieb längst erledigt schienen. Und es bleibt ein innerer Widerspruch, wenn die Ensembles einerseits stärker nach ethnischen Kriterien zusammengesetzt werden sollen, Inszenierungen diese aber keinesfalls ausstellen oder thematisieren dürfen.

Otello als blauer Avatar

Welche Fallstricke sich daraus ergeben können, ist etwa der Auseinandersetzung des Rapports mit Verdis Oper «Otello» zu entnehmen. Sollte man den Tenor für die Titelrolle vielleicht blau schminken, als eine Art Avatar, der die Fremdheit von Shakespeares «Mohren» nur abstrakt markiert? Oder die Rolle in Zukunft nur noch schwarzen Sängern geben? Doch halt, Letzteres geht auch nicht, weil es Weisse ausgrenzen und Schwarze auf schwarze Rollen festlegen würde. Und wer entscheidet eigentlich, welche der Gesten genau als rassistisch gelten, die es in Zukunft bei den Tänzen aus aller Herren Ländern in Tschaikowskys «Nussknacker» zu vermeiden gilt? Der Intendant, die Diversitätsbeauftragte oder gar jene Aktivisten, die im allzeit alarmbereiten Internet fast alles als rassistisch auszumachen wissen?

Ob Puppen hier eine dauerhafte Lösung wären, darf man nach dem Stream aus Paris bezweifeln. Spätestens wenn die mechanische graue Aida-Puppe mit Jonas Kaufmann kuschelt, während die Sopranistin dahinter hilflos dreinblickt, wird die Sache skurril. Schliesslich haben sich die äthiopische Prinzessin und der ägyptische Feldherr bei Verdi in den Kopf gesetzt, einander über alle Grenzen – auch die der Herkunft und Hautfarbe – hinweg zu lieben, was ihr Schicksal normalerweise ziemlich anrührend macht. Die gleichsam in Körper und Stimme gespaltene Aida dagegen bleibt fremder als viele geschminkte und ungeschminkte Verkörperungen zuvor.

Wer ist hier der gefangene Äthiopierkönig Amonasro? Fest steht: Ludovic Tézier (links) singt ihn.

Opéra de Paris / Youtube

Alles andere als opernfremd dagegen ist die Darstellung anderer Länder und Welten – sie begleitet die Geschichte des Musiktheaters seit seinen Anfängen, und zwar, wie der Rapport zugesteht, mit oft durchaus «ehrlichem Interesse und Neugier für die nichteuropäischen Kulturen». Dazu zählen auch Stücke, die erst seit jüngster Zeit wieder regelmässig gespielt werden, wie Jean-Philippe Rameaus «Les Indes galantes» aus dem Jahr 1735 oder Giacomo Meyerbeers 1865 uraufgeführte «L’Africaine». Für ihre Aufführung empfiehlt der Bericht die Problematisierung bereits bei der Saisonvorstellung sowie die Kontextualisierung durch Symposien, Ausstellungen und Programmhefttexte.

Mit letzter Konsequenz liefe das, ob gewollt oder nicht, auf eine Art Triggerwarnung für viele Stücke hinaus. Sie würden dabei zu Relikten einer vorurteilsbeladenen grauen Vorzeit abgestempelt, ausgestellt unter zerbrechlichem Glas wie die nichteuropäischen Kulturen in Lotte de Beers Inszenierung der «Aida».

Interesse am Fremden

Als die Oper 1871 in Kairo uraufgeführt wurde, da lieferte der französische Ägyptologe Auguste Mariette im Auftrag des ägyptischen Herrschers Ismail Pascha die Vorlagen für das Bühnenbild nach antiken Vorbildern. Wie weit dabei auch kolonialistische Blickwinkel eine Rolle spielten, wird in der Verdi-Forschung seit langem diskutiert. Und kaum eine zeitgenössische Inszenierung kommt noch umstandslos in ägyptischem Dekor daher, weil «die Vergangenheit zu bewahren, nicht bedeutet, sie zu wiederholen», wie der Rapport aus Paris richtig festhält.

Doch kulturelle Aneignung, so unzulänglich, plump und bisweilen arrogant sie daherkommen mag, bedeutet eben auch: Interesse am Fremden. In der jüngsten Pariser Inszenierung dagegen erlebt man nur noch eine historische französische Gesellschaft, die letztlich unsere eigene ist. Weil sie vom Fremden nicht mehr als Fremdem erzählen darf, bleibt sie auf sich selbst zurückgeworfen. Sie schmort, auf paradoxe Weise, im eigenen Saft, so divers sie sich vielleicht künftig in den Hautfarben geben mag. Die bunte Gesellschaft bliebe damit so grau wie die Puppen, die sie hier bestaunt.

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