Im April 2020 hätte Sergei Prokofjews Oper Der feurige Engel in einer Neuproduktion am Theater an der Wien Premiere feiern sollen, allerdings kam der erste Lockdown dazwischen. Ein knappes Jahr später konnte die Aufführung nun doch noch nachgeholt werden, wenn auch in ungewöhnlichem Setting. Viele Kameras und einige Journalisten befanden sich nämlich an diesem Nachmittag im Rahmen einer sogenannten Aufzeichnungspremiere im Zuschauerraum; die Vorstellung wurde nicht live gestreamt, sondern wird erst zu einem späteren Zeitpunkt ausgestrahlt werden. Aber diese Übertragung sollte man sich als Opernfan keineswegs entgehen lassen, denn die Vorstellung bot großes musikalisches Kino.

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Ausrine Stundyte (Renata)
© Bern Uhlig

Dank dem ORF Radio-Symphonieorchester glitzerte und schimmerte Prokofjews Musik wie ein dunkler, kalter Bergsee – wunderschön, aber mit latent bedrohlichem Unterton. Flirrend kündeten Streicher Unheil an, das Schlagwerk sorgte für ebenso präzise wie dämonische Akzente und in den Bläsern schwang düstere Romantik mit. Constantin Trinks lieferte eine detailreiche und exakte Interpretation, in der für warme, hoffnungsvolle Klangfarben ebenso Platz war, wie für rohe Verzweiflung. Der Dirigent bewältigte die ganze Vorstellung über außerdem den Balanceakt zwischen orchestraler Ekstase und Sängerfreundlichkeit exzellent: Die volle Klangwucht beschränkte er auf die orchestralen Zwischenspiele, nie wurden die Stimmen zugedeckt oder zum Forcieren gezwungen.

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Natascha Petrinsky, Kristján Jóhannesson, Elena Zaremba, Bo Skovhus, Ausrine Stundyte
© Bernd Uhlig

In der Titelpartie eines so mit Wahn aufgeladenen Stücks eine hundertprozentige Singschauspielerin wie Aušrinė Stundytė erleben zu dürfen, ist ein regelrechter Glücksfall. Wie sie mit ihrem Sopran die Facetten der Renata auslotete – mal zart schwebende Bögen gestaltend und mal mit voller Attacke Dramatik aufbietend – war schlichtweg beeindruckend. Für jede Emotion verfügt ihre Stimme über die passende Farbe; sie singt den Text nicht nur, sondern lebt ihn. Dass die Höhe dann und wann etwas scharf geriet, wurde angesichts der intensiven Darstellung völlig zur Randnotiz. In jedem Blick und jeder Bewegung war Stundytė an diesem Nachmittag Renata; sie wand sich am Boden, schlug sich selbst, blickte gehetzt um sich – fast hätte man vergessen können, dass all dies nur gespielt ist. Als Ruprecht konnte Bo Skovhus darstellerisch nicht in gleichem Maß aus den Vollen schöpfen, bot aber dennoch eine packende Interpretation eines in sich selbst gefangenen Mannes. Seine Stimme strömte ebenmäßig durch die Partie, bestach dabei durch farbenreiche Nuancen, elegante Phrasierung und Klangschönheit.

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Ausrine Stundyte (Renata) und Bo Skovhus (Ruprecht)
© Bernd Uhlig

In der Doppelrolle als Wirtin bzw. Äbtissin setzte Natascha Petrinsky ihren Mezzosopran etwas zu hart ein, die Kälte der vokalen Interpretation deckte sich jedoch ideal mit den Vorgaben der Regie. Ebenfalls zu einer Figur zusammengefasst wurden Agrippa und Mephistopheles, wobei Nikolai Schukoff zu stark auf stimmliche Kraft und zu wenig auf die Eleganz der Gesangslinie setzte. Von den kleineren Rollen stachen vor allem Elena Zaremba als vokal feurige Wahrsagerin und Alexey Tikhomirov, der den Inquisitor mit dämonisch dunkler Tiefe und warm timbriertem Bass ausstattete, hervor. Wenn es darum geht, sphärisch-entrückt zu klingen, ist der Arnold Schönberg Chor sowieso eine Klasse für sich und so gehörten auch in dieser Vorstellung die – wenigen – Chorpassagen zu den absoluten Highlights.

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Bo Skovhus (Rupert) und Ausrine Stundyte (Renata)
© Bernd Uhlig

Ambivalent ist letztlich der Eindruck, den die Inszenierung von Andrea Breth hinterlässt. Die Handlung entfaltet sich zwischen verwahrlosten bis entrückt-wahnsinnigen Patienten, die Wirtin des ersten und die Äbtissin des letzten Akts sind die gleiche Ärztin, ebenso sind Agrippa und Mephistopheles in einer Arzt-Figur zusammengefasst – sie alle werden am Ende übrigens ebenfalls dem Wahnsinn anheimfallen. Renata und Ruprecht leben in dieser Welt so vor sich hin und aneinander vorbei – sie in religiösem Wahn, er in Besessenheit. Ausgelassen wird kein Klischee: Gruppentherapie, ein verrückter Arzt, der zweifelhafte Experimente durchführt und am Ende ein Haufen hysterischer Frauen mit wirren Haaren auf einem metaphorischen Scheiterhaufen aus Metallbetten.

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Nikolai Schukoff (Mephistopheles) und Ausrine Stundyte (Renata)
© Bernd Uhlig

Das Grundkonzept, nämlich alle fünf Akte in ein und derselben psychiatrischen Aufbewahrungsanstalt der Jahrhundertwende anzusiedeln, erschließt sich durchaus. Jedoch gehen dadurch der rätselhafte Aspekt und die Doppelbödigkeit verloren, denn das Werk an sich bietet so viele Deutungsmöglichkeiten, die eben genau davon leben, dass man als Zuseher nie genau weiß, wessen Wahrheit nun die richtige ist. Da aber in dieser Inszenierung ohnehin alle Figuren psychotisch sind, musste man gar nicht erst versuchen, Rätsel zu entschlüsseln und seine eigene Interpretation zu finden, sondern bekam eine simple Deutung serviert, weshalb für die Spannung letztlich nur die Musik sorgte.


Unsere Rezensentin Isabella Steppan durfte als Mitglied der Presse die Aufzeichnungspremiere am Theater an der Wien am 15. März besuchen. Der Videostream der Produktion wird zu einem späteren Zeitpunkt ausgestrahlt.

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