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Christof Loy inszeniert Tschaikowski-Lieder an der Oper Frankfurt: Ach, mein Leid, mein Herzeleid

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Olesya Golovneva mit Vladislav Sulimsky.
Olesya Golovneva mit Vladislav Sulimsky. © Monika Rittershaus

Die Oper Frankfurt sendet Christof Loys vielschichtigen Tschaikowski-Liederabend „Nur wer die Sehnsucht kennt“ auf die Bildschirme.

Nur wer die Sehnsucht kennt, kann mit einem solchen Abend etwas anfangen. An dem nicht viel geschieht und doch alles vorkommt, was (in Friedenszeiten, in Zeiten, in denen das Private die Oberhand haben darf) Bedeutung hat, Liebe, Freundschaft, Einsamkeit, Missmut, Trennungsschmerz, Verzweiflung. Überhaupt der Kontakt zu anderen Menschen oder die Kontaktlosigkeit, die sich beide nicht danach bemessen, ob man sich dem Gegenüber auf mehr als 1,50 Meter nähern darf. Es ist nicht unerwartet bei dem Regisseur Christof Loy, dass Blicke, Gesichter, herumstehende Menschen zu Brenngläsern von Gefühlsausdruck werden. Körperliche Berührungen sind möglich und wichtig, aber sie steigern das nicht, sondern ergänzen es bloß.

„Nur wer die Sehnsucht kennt“, gesendet aus dem Opernhaus Frankfurt, ist ein Opernabend ohne Oper. Dadurch wird, möglicherweise unterschätzt man zunächst diese Wirkung, das Wesen eines Opernabends aber sogar besonders greifbar. Es besteht immer auch darin, dass die Gegenwart einer Arie oder Begegnung alles ist, was zählt, das Vergangene ist nicht vergessen, aber zweitrangig, das Kommende ist selten eine Hoffnung, meistens eines Drohung, aber noch ist es ja nicht so weit. Das nach hinten hochbelastete, nach vorne ahnungsvolle Gefühl wird dadurch spektakulär freigelegt, enthüllt und auf den Punkt gebracht, ohne seinen Kontext und seine Komplexität zu verlieren. Hundert Dinge darf auch das Publikum dabei mitdenken, die Umstände und die Empfindungen so vielschichtig wie im Leben. Ja, dass die extrem künstliche Oper mehr und offener vom Leben erzählt als die meisten anderen künstlerischen Ausdrucksformen, es fällt erst recht auf an diesem opernlosen Opernabend.

Klavierlieder von Peter Tschaikowski stehen im Zentrum eines zwar schattenhaften, aber intensiven Geschehens. Die Auswahl ist genial auf das Dramatische gerichtet, auf große Dramen, sie erscheinen aber nicht exaltiert, sondern unmittelbar und menschlich geerdet, mit glasklaren Sätzen von gestern, heute und morgen. „Was vorbei ist, ist vorbei“, „Er hat mich so geliebt“, „Ich leide unter einer Trennung“, „Warum werde ich jeden Tag trüber und kränker?“, „Ach, mein Herz, mein Herzeleid!“

Loy, der eben erst an der Deutschen Oper Berlin mit einer (ebenfalls gestreamten, an was man sich nicht alles gewöhnt) „Francesca da Rimini“ von Riccardo Zandonai überzeugte, findet im Programmheft sogar eine Art Handlungsablauf. Aber auch ohne das zeigt sich der große, sonore Bariton Vladislav Sulimsky als Hauptfigur, als der wie selbstverständlich sich herausbildende Mittelpunkt (oder lenkt die Kamera geschickt die Aufmerksamkeit?).

Zunächst bleibt er mit dem jüngeren, heller timbrierten Kollegen Mikolaj Trabka und dem angenehm zurückhaltend italienisierenden Tenor Andrea Care zu dritt auf der Bühne, als hätte der Zufall oder eine langweilige Gesellschaft die drei eleganten Männer mit gelockerten Hemdkrägen in dieses ruhige Hinterzimmer getrieben. Loys Sinn für effiziente und vielsagende Natürlichkeit bricht sich voll Bahn. Wie stehen die drei zueinander, sind sie Freunde oder gute Zufallszuhörer, umlauern sie sich nicht auch?

Das Hinzutreten der beiden Frauen bringt nur vorgeblich mehr Klarheit, Olesya Golovneva und Kelsey Lauritano deuten Beziehungen an, Loys Programmheft-Ideen – dass die eine die Jugendliebe, die andere die jetzige Ehefrau sein soll – macht das Geschehen dabei interessanterweise enger als das, was tatsächlich zu sehen ist. Dass Golovnevas durchaus dramatischer Sopran und Lauritanos großer, warmer, schillernder Mezzo die bereits jetzt reichhaltigen Klangfarben noch facettenreicher blühen lassen, ist so beeindruckend wie ihr Spiel. So offen der Fortgang der Handlung, so konkret der Moment, ein Lächeln, ein Blick, ein Rückzug, und fast immer fesselnd.

Für das Opernprototypische der Unternehmung spricht die Verwendung von Herbert Murauers Bühnenbild, gebaut für Umberto Giordanos „Fedora“, die Loy in dieser Spielzeit an der Oper Frankfurt inszenieren wollte. Es funktioniert auch jetzt ausgezeichnet. Ein großer, eleganter Salon mit prächtiger Rankentapete, auf die ein güldener Bilderrahmen appliziert ist. Öffnet sich die Tapetenfläche dahinter, erscheint ein surreales Landschaftsbild. Für das Intermezzo in der Mitte mit einem (vorher eingespielten) Satz aus dem Sextett „Souvenir de Florence“ wurden die entsprechenden Streichinstrumente und Notenpulte sinnig auf das Bild im Bild verteilt. Für eine Nummer nehmen Kapellmeister Nikolai Petersen als Zweitpianist und Lauritano hier auch eine traditionelle Liederabendposition ein.

Der Hauptpianist Mariusz Klubczuk ist vor dem Bild stark beschäftigt, vehement spielend, dezent im Halbschatten bleibend. Aus den 24 Nummern ragen etliche heraus, nach hinten raus steigern sich Intensität und Verve, und alles, was einem zu Beginn vielleicht noch zu unverbindlich erschien, wird zunehmend triftig. Überwältigend dringlich Andrea Care mit „Warum?“ auf Heinrich Heine oder Sulimsky und Golovneva in „Zemfiras Lied“ auf Puschkin, das veritabel als Dialog mit Sprech-Passagen gestaltet ist. Die Duette und Quartette beglaubigen das Opernhafte, das Tschaikowskis Liedern ohnehin zueigen ist. Ein fabelhaft choreografierter aufgekratzter Tänzchenreigen auf das von Klubczuk gespielte „Dornröschen“-Finale bestätigt den Sinn des szenischen Aufwands.

Triftig und tragisch. Sulimskys bedeutungsvoll ausinszenierter Schluck aus dem Glas zum Schluss erscheint als endgültiger Schritt, noch bevor man bei Loy liest, das Publikum solle ruhig an Tschaikowskis Cholera-Tod denken, verursacht wohl durch zumindest leichtfertig getrunkenes nichtabgekochtes Wasser. Alles bleibt vage, nur der Tod ist gewiss.

Oper Frankfurt: im Stream bis 10. Juni via www.oper-frankfurt.de und in der Arte-Concert-Mediathek bis 25. Juni.

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