Taugt Franz Schubert als Opernheld?

Biopics auf der Opernbühne erleben eine Renaissance: Mit «Schuberts Reise nach Atzenbrugg» haben Peter Turrini und Johanna Doderer jetzt sogar eine neue Komponisten-Oper geschaffen. Das Format atmet den Geist des 19. Jahrhunderts.

Marco Frei, München
Drucken
«Kennen Sie eine lustige Musik? Ich nicht»: Daniel Prohaska als Franz Schubert in «Schuberts Reise nach Atzenbrugg» von Peter Turrini und Johanna Doderer.

«Kennen Sie eine lustige Musik? Ich nicht»: Daniel Prohaska als Franz Schubert in «Schuberts Reise nach Atzenbrugg» von Peter Turrini und Johanna Doderer.

Christian POGO Zach / Gärtnerplatz-Theater München

Die Relevanz mancher Aufführungen offenbart sich erst in der Rückschau. Als im Rahmen der «Potsdamer Winteroper» 2019 bei Berlin das unvollendete Oratorium «Lazarus oder Die Feier der Auferstehung» von Franz Schubert, komponiert um 1820, mit dem Stück «Lonely Child» von Claude Vivier für Sopran und Kammerorchester von 1981 gekoppelt wurde, war die Pandemie in Europa noch nicht präsent. Wenige Monate später aber wirkte das von dem Dirigenten Trevor Pinnock kreierte Projekt wie eine erschreckende Prophetie.

Denn es kreist um Entfremdung und Entrückung, um das Hadern des auf sich selbst zurückgeworfenen Ichs mit dem Hier und Jetzt, bisweilen mündend in eine selbstzerstörerische Sehnsucht nach dem «süssen Jenseits». Bei dem Kanadier Vivier, der im März 1983 in seiner Wohnung von einem Prostituierten ermordet wurde, war der Klagegesang auf die Einsamkeit aus dem Geist des französischen Spektralismus zugleich dezidiert autobiografisch grundiert: Als Homosexueller fühlte er sich stets als Aussenseiter, Vivier rang zeitlebens mit sich und der Welt – und die Welt mit ihm.

Gleichwohl ist der musikalische Rückzug ins Intime und Private bei Vivier nicht einfach eine trotzige Verweigerung, sondern Ausdruck eines zutiefst persönlichen, stillen Dramas. Ganz ähnlich bestimmte dieses auch das Sein und Wollen Franz Schuberts, jedenfalls nach dem heute vorherrschenden Schubert-Bild. Darauf berufen sich der Schriftsteller Peter Turrini und die Komponistin Johanna Doderer. Für das Gärtnerplatz-Theater in München haben sie die Oper «Schuberts Reise nach Atzenbrugg» kreiert. Die für das Frühjahr 2020 vorgesehene Uraufführung wurde jetzt nachgeholt: als Streaming-Vorpremiere in einer reduzierten Kammerfassung.

Das isolierte Ich

Die zunehmende Selbstisolation des Komponisten steht im Zentrum. In diesem tönenden «Biopic» geht es um den Künstler, der mit der Welt hadert. Das Muster erinnert an die Künstleropern im Stil des 19. Jahrhunderts, konkret an «Palestrina» von Hans Pfitzner, wird hier allerdings teilweise recht banal heruntergebrochen. Auf einer Kutschfahrt nach Atzenbrugg in Niederösterreich versucht der Schubert von Daniel Prohaska, bei der schönen Josepha von Weisborn, dargestellt von Mária Celeng, zu landen. Doch Schubert bringt kein Wort heraus, sondern einzig Musik.

Das versteht Josepha nicht, auch der mit Schubert befreundete Maler Leopold Kupelwieser, dargestellt von Mathias Hausmann, kann nicht helfen. Vielleicht aber klappt es auch deswegen nicht, weil die sexuelle Orientierung Schuberts fluide war, um nicht zu sagen: diverser. Immerhin wird schon seit den 1990er Jahren in der Forschung diskutiert, ob Schubert womöglich homo- oder bisexuell gewesen sei. Nun ist eine Oper zwar keine rezeptionskritische Abhandlung, aber die neuere Forschung sollte schon einbezogen werden.

Stattdessen ist im Libretto von Turrini eine Schubert-Sicht verankert, die auf den Fernsehmehrteiler «Mit meinen heissen Tränen» von Fritz Lehner aus dem Jahr 1986 zurückgeht – leicht gewürzt mit Motiven aus dem «Schubert»-Roman von Peter Härtling. Über weite Strecken wirkt die Oper denn auch mehr wie eine Inszenierung der Schubert-Arbeiten, wie sie der Maler Moritz von Schwind in den 1860er Jahren geschaffen hat, samt Schubertiaden- und Heurigen-Kolorit.

Melodiöse Überromantik

Die Regie von Josef E. Köpplinger unterstreicht dies noch, zumal Bühne und Kostüme von Rainer Sinell historisierend das Biedermeier beschwören. Zwar wird die Landpartie immer wieder von Bettlern, Vagabundierenden oder Kriegsveteranen «gestört» – was auf die restriktive, sozial kalte Metternich-Ära anspielt –, doch welche sozialpsychologischen Auswirkungen diese Politik auf Schubert hatte, wird nicht weiter ausgeführt. Dass einige Biografen Schubert heute als politisch deutlich stärker engagierten Künstler sehen, bleibt ausgespart.

Freilich passen die erwähnten «Stör-Elemente» vortrefflich zur Musik von Doderer. Sie ist dort am stärksten, wo Motive, Zitate oder Zitathaftes von Schubert aus der grossflächig entworfenen, stets melodiösen Überromantik der Komponistin heraustreten. In solchen Momenten gelingt es Doderer, die intimen, nach innen gekehrten Töne Schuberts wie Fremdkörper aus einer andren Sphäre wirken zu lassen. Für einen Augenblick erstarrt das bunte Treiben auf der Bühne, und es wird hörbar, wie sehr Schubert in seiner Musik der eigenen Zeit entrückt war. Genau das ist die Botschaft der Ausschnitte aus den «Atzenbrugger Tänzen», der Messe in Es-Dur, dem Adagio aus dem Streichquintett oder dem Lied «Erstarrung» aus der «Winterreise».

Gebrochen und verzweifelt

Von diesen Brüchen lebt musikalisch die gesamte Oper. Das Gärtnerplatz-Orchester unter der Leitung von Michael Brandstätter setzt dies eindrücklich um. Dagegen bleibt der Vokalstil im Korsett aus Ariosem und Rezitativischem gefangen. Wie schon in der Oper «Liliom» von 2016, ebenfalls uraufgeführt am Gärtnerplatz-Theater, gelingt Doderer keine originäre Neubefragung dieser überlebten Tradition. Dafür aber schlägt dieser Vokalstil eine Brücke zum Charakter der Titelpartie.

Es ist Daniel Prohaska, der die tiefe Verzweiflung und Gebrochenheit Schuberts einnehmend verlebendigt. Gleich zu Beginn der Oper kauert sein Schubert auf dem Boden, um die Musik in seinem Kopf einzufangen und zu notieren. Es gelingt ihm nur schwer, weil die medizinische Behandlung mit Quecksilber sein Gedächtnis schwächt. Am Ende der Oper entkleidet sich dieser Schubert. Vom Theaterhimmel flattern Notenblätter herab, und wieder vermag er nicht alle einzufangen. Das Drama Schuberts spielt sich eben im Inneren ab – aus der stillen, beengten Kammer in die grosse, die ganz grosse Welt.

Die Aufführung ist noch bis 7. Mai auf der Website des Gärtnerplatz-Theaters abrufbar.

Mehr von Marco Frei (frm)