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Opern-Kritik: Staatstheater am Gärtnerplatz – Schuberts Reise nach Atzenbrugg

Rund wie ein Marillen-Knödel

(München, 30.4.2021) Die Vorarlberger Komponistin Johanna Doderer vertont Peter Turrinis Libretto als Biedermeier-Bild voller Sang und Klang, als Franz Schubert triumphiert der großartige Tenor-Singschauspieler Daniel Prohaska.

vonRoland H. Dippel,

Das klinget schon so schön bei der Vorpremiere der Uraufführung! Zur Auftragsoper „Schuberts Reise nach Atzenbrugg“ kommen im Gärtnerplatztheater unter Intendant und Regisseur Josef E. Köpplinger die nämlichen Protagonisten zusammen wie schon bei „Liliom“ im Herbst 2016, damals noch in der Ersatzspielstätte Reithalle: Die Vorarlberger Komponistin Johanna Doderer, der steirische Dirigent Michael Brandstätter, der Bühnenbildner Rainer Sinell und in vorderster Front der großartige Tenor-Singschauspieler Daniel Prohaska, der nach Ferenc Molnárs Karusselausrufer Liliom in einer weiteren Lebensrolle als romantischer Liederfürst zu entdecken ist. Neu im Team ist Peter Turrini, seit Jahrzehnten der Spezialist für österreichische Skandalstückerln wie „Minderleister“ und „Grillparzer im Pornoladen“. Johanna Doderer gibt sich mutig und entschlossen genug für die Zusammenarbeit, zumal auch der verehrte Friedrich Cerha mit „Der Riese von Steinfeld“ bestens auf Turrini zu sprechen war.

Die „richtige“ Uraufführung kommt später

Szene aus „Schuberts Reise nach Atzenbrugg“ am Gärtnerplatztheater
Szene aus „Schuberts Reise nach Atzenbrugg“ am Gärtnerplatztheater

Die seit Erscheinen des Textbuchs beim Suhrkamp Verlag angekündigte Uraufführung hätte schon im vergangenen Jahr am 23. April 2020 stattfinden sollen, doch mussten die szenischen Proben wegen des ersten Lockdowns in den Sommer verschoben werden. Seit Anfang April 2021 finalisierte man also unter ordnungsgemäßen Hygienebedingungen für die digitale Vorpremiere zu St. Walpurgis. Dieser wird alsbald die Vollorchester-Erstform folgen – und damit sicher die richtigen Überraschungen. Bisher offenbart sich Doderers „Schubert“-Partitur als weich wie ein berühmtes Salzburger Mozart-Konfekt, rund wie ein Marillen-Knödel und pikant wie Liptauer mit Wacholder und Kren. Trügerisch im Stream wirkt allerdings das Sommerfrischen-Design, mit dem Hausherr Köpplinger und Sinell die im Kern tieftraurige Biedermeier-Skizze überzogen. Die Kutschenpartie ins zwischen Wien, Krems und Sankt Pölten gelegene Atzenbrugg mit dem Fast-in-den-Karpaten-Schloss unternimmt man mit Heuwagen und Klavier. Die unter Gehröcken und Kapotten vergrabene Reisegesellschaft mitsamt Vogerl im goldenen Käfig und einer langen Wurst, mit der sich die Wurstmacherin Dorothea Tumpel etwas kulturelle Bildung erschleichen soll, gebärdet sich vor dem grünrauschenden Blätterdach wie auf Moritz von Schwinds berühmten Schubertiade-Bild voller Sang und Klang. Köpplinger wird erstmals seinem Grundsatz untreu, beim Streaming ganz nah an der Authentizität und Verletzbarkeit des „echten“ Theaters zu bleiben. Unter dem suggestiv warmen Licht arbeitet er mit Weichzeichnungen und Überblendungen für eine größere digitale Fülle der Gruppenszenen vor spielopernden Pastellfarben.

Musikalisches Biedermeier-Vintage

Szene aus „Schuberts Reise nach Atzenbrugg“ am Gärtnerplatztheater
Szene aus „Schuberts Reise nach Atzenbrugg“ am Gärtnerplatztheater

Doderer kann musikantische Farben spinnen und Hörer irritieren, ob sie gerade in einer Schubert-Intonation war oder bei welcher sie in einigen Sekunden auf Umwegen über eine Kadenz oder Tonleiter ankommen wird. Elegant umgleitet sie das Parodieverfahren von Heinrich Bertés Singspiel-Lebensbild „Dreimäderlhaus“, indem sie nur selten vollständige Formeinheiten Schuberts, dafür vor allem Rhythmus- und Motiv-Bausteine übernimmt. Eine „Lindenbaum“-Paraphrase vermeidet sie, das Hauptthema der Unvollendeten auch. Doderers Schubert verliert sich nur allein in Melodien, die ihm im Kontakt mit anderen fehlen wie Arnold Schönbergs Moses von fast hundert Jahren das feurige Prediger-Wort. Auf leerer Bühne zerknüllt Daniel Prohaska – nach den richtigen Noten suchend – haufenweise Blätter und kommt am Schluss unter Goldlicht mit erhabener Isolation in besonnenen Schreibfluss. Doderer greift nach Schuberts Liedern, seiner Kammermusik und – erfreulicherweise – Schuberts wunderbaren Klaviertänzen. Unter Brandstätter klingt das im Stream leicht sämig und bei den mit Dialekt gefütterten Dialogen in kultiviertem Ton, nur manchmal mit leicht manierierter Derbheit und vanilleartiger Sentimentalität. Hauptinstrument ist das Klavier, welches sich im zweiten Teil mit der fast ebenso häufigen Solovioline und später einem Cello zum edel schrammelnden Trio eint. Sänger dürfen nicht klagen: Es gibt „Winterreise“-Zitate, Rezitative und für das Fräulein Josepha alias Mária Celeng trefflich feine Koloraturen.

Authentisch geschöntes Lebensbild

Szene aus „Schuberts Reise nach Atzenbrugg“ am Gärtnerplatztheater
Szene aus „Schuberts Reise nach Atzenbrugg“ am Gärtnerplatztheater

Die Altersbezüglichkeiten im sich mit Freude und Herz einsetzenden Gärtnerplatz-Ensemble stehen frei von realen Maßstäben und entsprechen den schönenden Maßstäben des langen 19. Jahrhunderts, gemäß welchem die Kunst Spiegel des Idealen, aber nicht des echten Lebens ist. Timos Sirlantzis als väterlicher Kollegenfreund Kammersänger Vogl und die Frauenfiguren geraten hübsch, lieb und adrett. Man sieht Schubert auf der Jagd nach dem richtigen Textbuch – und in Gedanken an seine unvollendete Oper „Der Graf von Gleichen“. Er hängt an den Lippen seiner Freunde, wenn ihm diese einreden, dass er als Künstler neben Erbprinzen und Kirchenmännern das größte Glück bei den Frau’n hat. Prohaska ist mit seinem eigenwillig aus Schmelz und Harnisch geflockten Tenor der kreative Wawuschel aus dem Anekdotenbuch. Die Nickelbrille, die von der Maske idealiter hervorgehobenen Pausbäckchen und der Gehrock… alles ein bisschen weltfremd, herzig und doch so grundsympathisch. Die Syphilis nimmt man im zweiten Teil nicht mehr so zur Kenntnis, die Krüppel im Metternichschen Unterdrückungssystem als zitathafte Realismus-Folklore schon.

Hier manifestiert sich ein Übertünchungsprozess mit als Gesundungsmittel verstandenem Kalk, wie ihn Turrini als Wesensmerkmal des österreichischen Nationalcharakters definiert. Der Applaus am Ende klingt noch eine Spur heftiger, fordernder und beglückter als beiden bisherigen Gärtnerplatz-Streamings. Beherzigt wurde ein Grundsatz: Bei der Vorpremiere verpulvert man nie das volle Kunstfeuerwerk – für die Publikumspremiere hat man also noch Spannungs- und Sentiment-Reserven.

Staatstheater am Gärtnerplatz München
Doderer: Schuberts Reise nach Atzenbrugg

Vorpremiere in kammermusikalischer Fassung live aus dem Staatstheater am Gärtnerplatz

Michael Brandstätter (Leitung), Josef E. Köpplinger (Regie), Rainer Sinell (Bühne & Kostüme), Michael Heidinger & Josef E. Köpplinger (Licht), Meike Ebert & Raphael Kurig (Video), Karl Alfred Schreiner (Choreografie), Verena Sarré (Leitung Kinderchor), Fedora Wesseler (Dramaturgie), Daniel Prohaska (Franz Schubert), Mária Celeng (Josepha von Weisborn), Alexandros Tsilogiannis (Franz von Tassié), Mathias Hausmann (Leopold Kupelwieser), Anna-Katharina Tonauer (Caroline Helmer), Daniel Gutmann (Nepomuk Feder), Timos Sirlantzis (Johann Michael Vogl), Andreja Zidaric (Louise Lautner), Florine Schnitzel (Dorothea Tumpel), Holger Ohlmann (Theodor Schubert, Vater von Franz), Johannes Thumser (Kutscher), Dieter Fernengel, Philipp Gorissen, Stan Holoubek, Veronika Kröppel, Marco Montoya, Stefan Welte (Kriegsinvalide), Chor und Kinderchor des Staatstheaters am Gärtnerplatz, Orchester des Staatstheaters am Gärtnerplatz

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