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Ric Furman (Boris), Anna-Maria Kalesidis (Katja). Foto: © Birgit Gufler
Ric Furman (Boris), Anna-Maria Kalesidis (Katja). Foto: © Birgit Gufler
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Die Wolga, der Müll und der Tod – „Katja Kabanova“ endlich in Innsbruck

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Jetzt – in der sich lockernden Pandemie – könnte man spielen. Aber nach drei Vorstellungen von Leoš Janáčeks „Katja Kabanova“ schließt das Tiroler Landestheater aufgrund der geplanten Innenraumsanierung ab 1. Juni. Die Wiedereröffnung ist für Oktober 2021 geplant. Aufführungen der Innsbrucker Festwochen Alter Musik finden deshalb im Kammertheater und im Haus der Musik statt. Beim dritten Anlauf wurde die erste Aufführung von Janáčeks Oper vor physischem Publikum mit großer Orchesterbesetzung zu einem packenden emotionalen Wechselbad aus Abscheu und Berührtsein.

Insgesamt drei Anläufe zur Premiere gab es: Der erste Termin wurde durch den ersten Lockdown im Frühjahr 2020 verhindert, was sich im Herbst 2020 wiederholte. Nach den vorerst drei öffentlichen Vorstellungen bereichert die Produktion das Streaming-Angebot des Tiroler Landestheaters.

In Hermann Schneiders Inszenierung ist am Ende das Wolga-Ufer, wo die Kaufmannsgattin Katja Kabanova nach gebeichtetem Seitensprung den Tod sucht, voller Müll. Bei der Familie Kabanow stehen sowjetische Orden und Auszeichnungen säuberlich poliert in der Vitrine. Die unerbittliche Familienmutter Kabanicha sieht im Fernsehen eine Militärparade und putzt ihre nächsten Angehörigen – egal ob Sohn oder Schwiegertochter – herunter. Ein perfekt wirksames Soziotop zeigt Schneider aus irgendwie überlebenden Dorfhierarchien und sozialistischem Opportunismus. Diese Koinzidenz beweist perfekte Wirksamkeit, wenn es um das Unterdrücken und Bestrafen von Bedürfnissen nach Nähe, Mitmenschlichkeit und Zärtlichkeit geht. Unbefriedigte Frauen wie Flauberts Madame Bovary und ihre vielen Gefährtinnen aus der realistischen Literatur treiben an derartigen Schauplätzen erst in den Seitensprung und dann in den Selbstmord.

In dieser Deutung von „Katja Kabanova“, die in Tirol bislang erstaunlicherweise noch nicht gespielt wurde, passt der Zeitsprung vom bürgerlich-ländlichen Milieu des 19. Jahrhunderts in die 1980-Jahre und damit in die Verfallszeit der kommunistischen Sowjetrepubliken. Rot und affirmativ ist da nur noch das Coca-Cola-T-Shirt der sich wenig um Repressalien scherenden Barbara. Camilla Lehmeier spielt einen berührenden Sonnenstrahl in einem von Wolken erdrückten Sommer.

Bei der Innsbrucker Premiere gesellt sich ein Glücksfall neben andere. Die herben Fahrigkeiten und fragmentierten Melodien der 1921 in Brünn uraufgeführte Oper Janáčeks werden in der offenen Akustik des Landestheaters mit Fülle, Klarheit und Härte bestens vernehmbar. Das Tiroler Symphonieorchester Innsbruck geht die Musik weniger mit rhythmischer Präzision als klangfarblich und rundend an. Lukas Beikircher befeuert vom Pult mit ungleichmäßigen Tempi das Sängerensemble darin, auch in Max Brods deutscher Übersetzung die ätzende Schärfe der Diktion zu bewahren. Das steigert die Wirkung der intensiven Soli Katjas und der Volksmusik-Strophen der beiden so unterschiedlichen Paare Barbara und Kudrjasch (Edward Lee), des baumhohen Softies Boris (Rafal Bartminski) und Katja umso mehr.

Dieter Richters verbindendes Bühnenbild erzählt viel, weil es menschliche Verformungen und Vermüllung mit gegenseitiger Bedingtheit darstellt. Meentje Nielsens Kostüme bekennen sich meistens zur Farblosigkeit mausgrauer Mäntel, verdreckter Kittelschürzen und der schwitzig-angeschabten Eleganz der Alten. Schneiders Regie beruht auf genauer Menschenbeobachtung. Überdeutlich und doch nicht vergröbernd sind jeder Griff zur Bierflasche des von der Mutter geknechteten Tichon (Roman Payer) und jene des Clochards Kuligin (Unnsteinn Árnason) zum Wodka. Abgeschmackt bis kurz vor der flächendeckenden Unflätigkeit sind die sopranig geifernden Übergriffe Kabanichas (Susanna von der Burg) und die Auswürfe des autoritär-widerlichen Dikoj in Feinripp-Unterhemd und Militärmantel (Joachimn Seipp).

Oft fragt man sich bei Aufführungen dieser Oper nach Alexander Ostrowskis Schauspiel „Gewitter“, warum ein Lichtwesen wie Katja in dieses bizarr-diktatorische Familiensystem geraten kann. Hier nicht. Anna-Maria Kalesidis ist zu Beginn verhalten und macht kaum Eindruck, bevor sie in der Traumerzählung den leuchtenden Kern ihrer Figur enthüllt. Gegenüber Beleidigungen baut sie eine Selbstschutz-Mauer aus an Phlegma grenzender Lethargie. Umso reißender wird Katjas emotionales Tauwetter in der Liebesnacht. Auch beim langen monologischen Sterben weiß Kalesidis‘ Katja von der Unausweichlichkeit ihres Todes. Mit jener Gelassenheit nimmt sie dieses Geschick an, mit der sie im langen Rest eines stumpfen Daseins ihren Alkoholiker-Gatten Tichon und die tyrannische Schwiegermutter weiterhin hätte ertragen müssen – Frauenleben ohne Liebe.

Mit dieser Zentralgestalt erzeugt die umjubelte Premiere den Nachklang einer dumpfen Wut, wie sie sich bei Gedanken über unabänderliche Bösartigkeiten oder unveränderliche Missstände aufbaut. Diese Inszenierung und das zutiefst eindrucksvolle Ensemble lassen keinen Zweifel daran, dass für die Hinterbliebenen auf der Bühne alles noch viel, viel schlimmer werden wird. Das erlebt man in dieser Produktion mit schon volksstückhafter Detailgenauigkeit, die in diesen pausenlosen 110 Minuten mehrfach den Atem stocken lässt. Oper der unaufgeregt gemachten und dabei existenziell enervierenden Art – auf Höhe von Janáčeks großartiger Partitur.

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