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Sternstunde im Berner StadttheaterEine «Jenůfa» zum Niederknien

Sie mäht alles nieder. Claude Eichenberger als Küsterin Buryja.

In der Pause zieht sich das Publikum vor dem Stadttheater die Masken von den Gesichtern, während sich am Himmel eine Wolkenschicht über die andere schiebt. Eine dritte verdunkelt schliesslich den Himmel. Aus der Ferne blitzt es, und im Sommerabendwind liegt der Duft des Gewitters, das bald über der Berner Innenstadt niederbrechen wird.

Dem einen oder anderen Premierengast, der eben noch die ersten zwei Drittel der Oper «Jenůfa» bestaunt hat, muss das Muskelspiel der Luftschichten besonders eingefahren sein. Denn das Wetterspektakel spiegelt, was noch eben im Saal vor sich gegangen ist. Das Drama hat einen Sog entwickelt, wie er selten ist im Stadttheater, hat den Abgrund menschlicher Untiefe aufgerissen. Ein Kindsmord aus einer Verzweiflung, die sich Schicht für Schicht aufgebaut hat wie der Wolkenturm über dem Kirchenfeldquartier.

Beton, sonst nichts

Was für eine Produktion. Dass es nichts zu lachen geben wird, deutet schon das Bühnenbild an. Diese Sichtbetonwand (Ausstattung Julia Rösler) nimmt die Kälte aus Leoš Janáčeks Oper vorweg, die 1904 in Brünn uraufgeführt wurde. Jenůfa (Johanni van Oostrum) ist verlobt und heimlich schwanger. Leider ist ihr Verlobter Števa (Nazariy Sadivskyy) ein Säufer, ein Weiberheld und Nichtsnutz. Während der Nebenbuhler Laca (Beau Gibson) in seiner Verliebtheit verzweifelt, hurt Števa herum.

Sichtbeton, Sängerinnen, Sänger, Maskerade. Mehr ist da nicht.

Nachdem Jenůfa das Kind auf die Welt gebracht hat, will Števa nichts mehr von ihr wissen. Der Grund: Ihre «Apfelwangen», auf die er so stand, sind entstellt – nachdem Laca mit seinem Messer hantiert und Jenůfa getroffen hat. Hier, wir sind im zweiten Akt, tritt jene Figur in den Vordergrund, die in dieser Tragödie die Fäden zieht. Die Küsterin Buryja (Claude Eichenberger) will ihre Ziehtochter vor der Schmach bewahren, ohne Mann an ihrer Seite ein Kind grossziehen zu müssen. Sie verübt die Schreckenstat. Sie legt das Baby unter die Eisdecke im See.

Reduktion führt zu Klarheit

Der Pandemie wegen führt Konzert Theater Bern die Oper in einer Fassung für ein Kleinorchester von 16 Solistinnen und Solisten auf, für die der musikalische Leiter Matthew Toogood besorgt war. Was für ein Glücksfall. Janáčeks Komposition ist eine Wucht, sie hat einen Sog in die Tiefe des Elends, der kein Innehalten zulässt. Die Reduktion im Orchestergraben verleiht dem Ganzen eine Klarheit, die die Dringlichkeit der Musik noch erhöht.

Die Betonwand begleitet das Geschehen auf der Bühne bis zum Schluss. Mehr ist da nicht. Die Inszenierung (Eva-Maria Höckmayr) verlässt sich auf die Musik und die Sängerinnen und Sänger. Es wird gesungen (auf Tschechisch, Untertitel in Deutsch) und basta. Aber gerade Johanni van Oostrum in der Titelrolle und mehr noch Claude Eichenberger als Küsterin tun das mit einer Überzeugung und Brillanz, dass einem der Atem wegbleibt. Sich mehr in eine Rolle reinknien, als wie Eichenberger das tut, kann man nicht. Mit ihrer Stimme mäht sie alles nieder, selbst der eine oder andere Klagelaut ihrer Buryja entfährt ihr, dass es einen bis auf die Knochen friert.

Oper: Das Leben

Die Bravorufe und der Applaus sind ihr und ihren Kolleginnen und Kollegen gewiss, alles andere wäre nach den zweieinhalb Stunden ein Hohn. Auch wenn wegen Corona wenig Publikum im Saal sitzt: Die Begeisterung erfüllt das Stadttheater. Es ist ein Abend, der beweist, dass Oper weit mehr als Handlung plus Musik sein kann, mehr als Unterhaltung: das Leben.

Draussen ist die Untergangsstimmung dem Starkregen gewichen. Doch auch eine bis auf die Haut durchnässte Abendgarderobe vermag das Erlebnis «Jenůfa» nicht zu schmälern.

Weitere Aufführungen bis 19. Juni.