Hervé-Operette in Paris : Zack, Pfeil im Auge!
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Vom Jäger gestört: Ernest (David Ghilardi, links) mit seinem Herzensschätzchen Fleur-de-Noblesse (Ingrid Perruche). Bild: Eric Bouloumie
Vor zweihundert Jahren wurde der „Freischütz“ uraufgeführt. Die Operette „V’lan dans l’œil“ von Hervé parodiert das Stück. Für seinen Esprit in Tönen ist der Autor zu bewundern. Der Palazzetto BruZane bringt es jetzt am Théâtre du Châtelet heraus.
Operetten gelten als leicht. Zu Unrecht. Es ist nämlich schwer, derlei Gesamtkunstwerke aus Worten, Gesten und Klängen, pardon: aus Witz, Wirbel und Ohrwürmern zum Zünden zu bringen! Nehmen wir die Produktion von Hervés Opéra-bouffe „V’lan dans l’œil“ (1867), die jetzt am Pariser Théâtre du Châtelet läuft. Der Regisseur Pierre-André Weitz geht mitunter zu belesen, meist jedoch zu burschikos zu Werke, als dass die brillante Musik szenisch immer zünden könnte. Anspielungen auf das Entstehungsjahr des Dreiakters, auf Vorlagen, die er parodiert (namentlich Webers „Freischütz“ und Rossinis „Guillaume Tell“), bezeugen zwar, dass die dramaturgische Pflichtarbeit geleistet wurde. Doch die wenigsten Zuschauer dürften sie verstehen.
Hingegen stechen die Grobschlächtigkeit der Bühnenbilder und Kostüme und die Hemdsärmeligkeit der Personenführung ins Auge – Weitz, seit 1989 der Ausstatter des amtierenden Intendanten des Festival d’Avignon, Olivier Py, zeichnet für alle drei verantwortlich. Man begegnet kunterbunten Glühbirnen, der Welt des Jahrmarkts, einem Holzpferd sowie einer Vorliebe für Schrilles und Queeres.
Nach der Ouvertüre beginnt der erste Akt unvorteilhaft mit einem Dialog dreier Dorfschönheiten. Der routinierte Stentor-Ton vieler Sprech-Passagen schadet dem Textverständnis und verunmöglicht jenes Nuancieren, ohne das der Geist von Hervés Libretto sich verflüchtigt. Als Dindonnette (Lara Neumann) sich zu dem Trio gesellt und von ihrem Geliebten schwärmt, den sie erstmals „die Oboe spielend unter einer Buche“ erblickt hat, zeigt Weitz besagten Alexandrivore (Damien Bigourdan) beim Urinieren am Bühnenrand. Was lediglich ein unappetitliches Detail scheinen mag, ist emblematisch für eine Regie, die durchweg konkretisiert, worauf der Text bloß anspielt. Doch im folgenden Liebesduett treten dann auch die positiven, vorwiegend musikalischen Aspekte der Aufführung zutage. Bewältigen Bigourdan und Neumann den ersten, aristokratisch erhabenen Teil mit tenoralem Dröhnen beziehungsweise sopranistischen Intonationstrübungen, so verleihen sie dem zweiten, plebejisch kecken einen mitreißenden Schwung. Der jähe Bruch zwischen „hohem“ und „niederem“ Ton innerhalb einer Nummer ist ein Markenzeichen des Komponisten.
Mit dem Auftritt des Marquis erhält der Abend einen ersten Höhepunkt. Flannan Obé verkörpert den hasenherzigen Satyr als einen „Garfield“-Oldie mit blauem Blut: Er ist der letzte, vielleicht auch einzige seiner hündisch hechelnden Rasse. Obés „Legende von der atmosphärischen Languste“ bildet ein Kabinettstück der geschliffen-humorigen Gesangskunst: Esprit in Tönen. Doch das negative Pendant folgt wie die Viehbremse dem Preisochsen: In veilchenfarbenen Strapsen gibt Olivier Py die Marquise mit schwacher Brust und schwankendem Ton. Seine Opern-Travestie im kreischenden Falsett (der Text evoziert den „süßesten Traum“) dürfte zumindest jene erfreuen, die bis dahin glücklos nach einer idealtypischen Verkörperung des Wortes „Charge“ gesucht hatten.
Doch weiter geht’s in hohem Tempo. Vor der giftgrünen Kulisse eines Schießstands präsentiert der Kunsttischler Ernest (David Ghilardi) der bastelwütigen Marquisen-Tochter Fleur-de-Noblesse (Ingrid Perruche) ein Bouquet aus blauen Blumen. Die beiden singen nicht ganz synchron im Trio mit dem Landvogt (Jean-Damien Barbin), doch lieben sie einander so innig, dass Fleur eine List einfällt: Durch einen Trick soll der unsportliche Ernest beim Wettschießen den Sieg und damit auch ihre Hand erringen – der „Freischütz“ lässt grüßen.
Nur kommt den amourösen Handarbeitern ein geheimnisvoller Jäger in die Quere, der gelobt, Ernest zu übertrumpfen. An dieser Stelle wartet der Komponist mit einem Pasticcio von Ensembleszenen der Grand Opéra auf, die unter dem Zeichen der Schreckensstarre stehen. Ein zweifacher Orgelpunkt steigert die Spannung ins Unerträgliche, eine schlüpfrige Improvisation auf das Thema „Die Polin und die Schwalbe“ lässt sie wieder absacken, dann sendet der maskierte Schütze, v’lan dans l’œil!, zack, einen Pfeil ins Auge der Marquisen-Tochter! Es sei hier nicht verpetzt, wie der entlarvte Alexandrivore aus dem Kerker freikommt. Unseretwegen könnte er dort bis zu seinem Lebensende singen, ist doch sein Lied mitsamt Jodler, das er hinter Gittern stemmt, von einer Tollheit, die selbst Rossini und Offenbach nicht übertroffen haben. Bigourdan, der immer neue Facetten offenbart – vom Heldentenor bis zum Zittergreis –, läuft hier stimmlich wie mimisch zur Höchstform auf.
Unterm Strich zeigt die Produktion zweierlei. Erstens: Hervé (1825 bis 1892) genoss zu Lebzeiten verdientermaßen die Wertschätzung sowohl des breiten Publikums als auch von Kollegen wie Richard Wagner. Das Potential seiner Werke ist enorm, weswegen dem Palazzetto Bru Zane, dem Zentrum für französische Musik der Romantik, zu danken ist, das vor „V’lan dans l’œil“ schon vier andere Bühnenwerke wieder belebte. Zweitens: Heutige Sänger tun sich schwer mit diesem Repertoire. Ein Kritiker schrieb anlässlich der letzten Pariser Aufführung des Dreiakters 1999, es sei kurios, dass man unserer Tage Lully und Rameau besser zu singen wisse als Hervé. Und in der Tat: In der einzigen, auf Youtube verfügbaren (Teil-)Aufnahme von „V’lan dans l’œuil“, wohl in den sechziger oder siebziger Jahren für Frankreichs Staatsrundfunk entstanden, steckt mehr Theatergeist als in der szenischen Aufführung im Châtelet. Doch Sängerdarsteller wie Bigourdan und Obé, mit Schmiss befeuert durch das Orchestre Pasdeloup unter der Leitung von Christophe Grapperon, beweisen, dass auch heute eine kongeniale Anverwandlung möglich ist. Mehr davon, bitte!