Die Kirche brennt, die Kirche wankt, aber sie bleibt stehen

Die St. Galler Festspiele zeigen auf dem Klosterhof eine bildstarke Neuinszenierung der Oper «Notre Dame» von Franz Schmidt. Wie in der Romanvorlage Victor Hugos spielt dabei die Kathedrale eine Hauptrolle.

Christian Wildhagen, St. Gallen
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Ein Kirchenmann fängt Feuer: Auch der Archidiaconus (Simon Neal) der Kathedrale verfällt den Reizen der schönen Esmeralda – mit fatalen Folgen.

Ein Kirchenmann fängt Feuer: Auch der Archidiaconus (Simon Neal) der Kathedrale verfällt den Reizen der schönen Esmeralda – mit fatalen Folgen.

Toni Suter / Theater St. Gallen

Als die Pariser Notre-Dame in Flammen stand, schien der Untergang des Abendlandes einen furchtbaren Augenblick lang Gestalt anzunehmen. Eine brennende Kirche voll unwiederbringlicher Schätze – das wäre an sich schon ein Fanal. Diese Kathedrale aber, sie ist mehr: Kulisse für die ganz grosse Geschichte und eine Projektionsfläche für abertausend kleine Geschichten, ein nationales Symbol und nichts Geringeres als die Wiege der europäischen Kunstmusik. Nicht zuletzt aber ist sie der eindrückliche Schauplatz eines Romans, dessen Personnage den Einzug ins kollektive Gedächtnis der Welt geschafft hat.

Erwartete man bei jedem Besuch nicht insgeheim, ihn leibhaftig anzutreffen? Ihn, den Glöckner von Notre-Dame, der in dem gotischen Wunderbau sein Unwesen treiben soll? Noch das Computerprogramm, das bis zum Brand wie mit Geisterhand das Geläut der Kirche in Gang setzte, trug seinen Namen: Quasimodo. Die Geschichte des Buckligen und seiner tragischen Liebe zur schönen Esmeralda schien an jenem 15. April 2019 mit in Flammen aufzugehen, und im schlimmsten Fall eines Einsturzes hätte vielleicht nur die Erinnerung an die packende Darstellung durch Anthony Quinn und Gina Lollobrigida in der Verfilmung Jean Delannoys das Inferno überdauert.

So schlimm kam es bekanntlich nicht, aber der prominenteste fiktive Bewohner der Kathedrale ist trotzdem wieder in aller Munde – nach dem Grossbrand schossen die Verkaufszahlen von Victor Hugos Roman «Notre-Dame de Paris. 1482» in die Höhe. Dieses buchstäblich neu entfachte Interesse machen sich nun auch die St. Galler Festspiele zunutze: für die Ausgrabung einer aussergewöhnlichen Opernfassung des flamboyanten Stoffs.

Die «schöne Fremde»

Am Freitagabend feierte auf dem Klosterhof Franz Schmidts Oper «Notre Dame» Festival-Premiere; die Open-Air-Produktion ist noch bis zum 9. Juli zu sehen. Diese erste Neuinszenierung des Stücks in der Schweiz seit Jahrzehnten unterstützt die verdienstvollen Bemühungen von Dirigenten wie Kirill Petrenko und Paavo Järvi, die dem österreichischen Spätromantiker mit dem Allerweltsnamen endlich die Aufmerksamkeit verschaffen wollen, die seinem Rang und seiner musikgeschichtlichen Mittlerrolle zwischen Bruckner und Mahler entspricht. Namentlich Schmidts erschütternde 4. Sinfonie von 1933 hat es im Zuge dieser Renaissance inzwischen zu einiger Präsenz auf den Programmen mutiger Orchester gebracht. Und das unter anderem von Nikolaus Harnoncourt geschätzte Oratorium «Das Buch mit sieben Siegeln» aus dem Jahr 1937 gilt von jeher als ein prophetisches Meisterwerk aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Schmidts bekanntestes Stück ist freilich immer noch das Intermezzo aus ebenjener Oper «Notre Dame» – über Jahrzehnte ein Wunschkonzert-Hit ersten Ranges, zudem mit erheblichem Ohrwurm-Potenzial: Wirken doch dessen süffig und mit leicht magyarischem Einschlag in sich kreisende Streicherkantilenen wie der Inbegriff orchestraler Opulenz. Erst eine Aufführung der gesamten Oper wie jetzt durch das Theater St. Gallen bringt indes den vernachlässigten Kontext der Musik zur Geltung. Sie macht deutlich, wie kongenial diese rauschhaften Klänge erfunden sind: Als leitmotivische Chiffre charakterisieren sie die Gestalt der Esmeralda und prägen als solche fast die gesamte Musik der Oper.

Der Dirigent Michael Balke und das Sinfonieorchester St. Gallen haben ein gutes Gespür für diesen folkloristisch-exotischen Tonfall, der sich ähnlich auch in vielen anderen Werken Schmidts findet (der damit wiederum auf seine eigenen ungarischen Wurzeln Bezug nahm). Das funkelt und jubiliert und lockt und betört, dass es eine Pracht ist. Und sie tun recht daran, diesen Zauber derart üppig auszuspielen, denn Esmeralda, in St. Gallen wunderbar gradlinig verkörpert von Anna Gabler, wird hier mehr noch als im Roman und in dessen zahlreichen Adaptionen zur Hauptfigur.

Die «schöne Fremde» mit unklarer Herkunft und allerhand glutäugig dreinblickendem Anhang erscheint unverkennbar als eine Nachfahrin von Bizets Carmen – und damit als ein spätes Beispiel für die noch um 1900 weitgehend ungebrochene Faszinationskraft der sogenannten Zigeuner-Romantik. Vor dem Hintergrund der aufgeregten Diskussionen, die derzeit um diesen Begriff geführt werden, könnte das problematisch anmuten. Doch in Schmidts Oper gibt es einen weiteren, sehr zeittypischen Subtext, der den naiven Exotismus vielschichtig überlagert.

Es sind die wohlbekannten Doppelbilder von Femme fragile und Femme fatale, von Heiliger und Hure, die in schillernden Abstufungen zahllose Theaterstücke und Opern des Fin de Siècle durchziehen. Esmeralda, die schon bei Victor Hugo als keusche Verführerin gezeichnet ist, entfacht gerade durch ihren selbstbewussten Verzicht auf gelebte Sexualität das Begehren der Männer – eine weitere Spielart jener delikaten Geschlechterkonstellationen, die exakt zur selben Zeit, um 1905, von Richard Strauss in der «Salome» und schon zuvor von Frank Wedekind anhand der archetypischen Lulu-Figur durchdekliniert werden.

Suggestive Bilder

Der Regisseur Carlos Wagner zeigt indes nicht allzu viel Lust, sich auf dieses glitschige Terrain zu begeben – er konzentriert sich lieber darauf, das bekannte Geschehen in den eindrucksvollen Bühnenbauten von Rifail Ajdarpasic bildmächtig zu arrangieren. Die Figuren bleiben dabei etwas flach, was freilich auch dem hölzernen Libretto geschuldet ist. Immerhin erhöht die entfernte Ähnlichkeit der doppeltürmigen St. Galler Kirchenfassade mit der Silhouette der Notre-Dame die Wirkung ungemein.

Genuin opernhafte Kraft gewinnt das Stück zudem in den Auseinandersetzungen Esmeraldas mit den insgesamt vier Männern, denen sie mehr oder weniger bewusst den Kopf verdreht. Die interessanteste Figur ist dabei der Archidiaconus, charismatisch gesungen von Simon Neal; der Kirchenmann kann seine eigenen dunklen Gelüste nur dadurch unter Kontrolle halten, dass er Esmeralda zur Hexe erklärt und dem Volkszorn opfert.

Quasimodo wiederum, anrührend verkörpert von David Steffens, bleibt in der Oper als von allen verspotteter «Narrenpapst» zunächst am Rande, schwingt sich dann aber zu einer durchweg positiv besetzten Rächergestalt auf. In der Schlussszene liefern sich der Glöckner und sein kirchlicher Ziehvater einen handfesten Showdown in luftiger Höhe: «Erbebe, du Riesenbau», dröhnt Quasimodo, während unter ihnen die Kirche Feuer fängt und die Flammen zu züngeln beginnen – «falle und begrabe mich unter dir!» Zum Glück bleibt der Riesenbau auch diesmal stehen, aber suggestiver kann eine Opernaufführung kaum noch sein.

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Weitere Aufführungen: 26. Juni; 2., 3., 7. und 9. Juli, jeweils 21 Uhr; Klosterhof, St. Gallen.

Mehr von Christian Wildhagen (wdh)

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