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Lucia Ronchetti „Inferno“: Lasst aber auf keinen Fall alle Hoffnung fahren

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Der Frankfurter Schauspieler Sebastian Kuschmann als Dante.
Der Frankfurter Schauspieler Sebastian Kuschmann als Dante. © Barbara Aumüller

Lucia Ronchettis staunenswerte Oper „Inferno“ hat es in Frankfurt jetzt zur konzertanten Aufführung gebracht.

Auch wenn die Begegnung mit Lucia Ronchettis „Inferno“ einen davon abhalten wird, das Wort „Hölle“ unnütz zu brauchen, so muss die Produktionsphase des Werkes doch höllische Züge gehabt haben. Vor mehr als einem Jahr hätte die Uraufführung stattfinden sollen. Die Pandemie kam dazwischen und hindert bis heute die reguläre Aufführung. Was jetzt im Bockenheimer Depot zu sehen und zu hören war, ist der konzertante Teil eines Musik- und Sprechtheaterwerks, das die Oper und das Schauspiel Frankfurt in Auftrag gegeben hatten und das von den beiden Regisseuren Kay Voges und Marcus Lobbes hätte aufwendig in Szene gesetzt werden sollen. Die Bilder im Programmheft lassen etwas davon ahnen. Der Film, der Teil des aufs Ganze gehenden Ereignisses gewesen wäre, wird im Juli ebenfalls gezeigt werden können, dann mit eingespielter Musik.

Der Eindruck bei der Uraufführung des hörbaren Anteils aber war so unmittelbar sinnlich, dass wir alle hoffen wollen, erstens nicht doch noch in die Hölle zu kommen, zweitens, dass die Oper Frankfurt beharrlich an einer Komplettaufführung festhält. Lediglich 77 Menschen durften bei der Premiere auf der Tribüne des riesigen Depots sitzen (während sich draußen im Café die Fußballfans knubbelten). Bitter. Aber: ein großer Abend für die wenigen Glückspilze, so groß, dass man das Szenische vorerst nicht vermisste. Es war ja alles zu hören.

Kunstvolle Pein

Musikalisch, das ist die größte Freude, herrscht echte Opernstimmung. Derber und subtiler Schrecken, Melancholie, Verzweiflung, Wut und die zarten Überreste der Liebe finden ihren Ausdruck in immer wieder neuen, originellen Sequenzen und Kombinationen. Neben den endlos vielfältigen, kunstvollen Tönen für Pein aller Art gibt es Madrigalhaftes und Folkloristisches und ein hinreißendes Liebesduett zwischen einer Sopranistin (Francesca) und einem Cello (Paolo).

Die Hauptrolle spielt, auch das ist pure Oper, die menschliche Stimme, stark herausgefordert in ihren klangerzeugenden Möglichkeiten. Dass der Ich-Erzähler Dante auf seiner Höllenfahrt in der „Göttlichen Komödie“ Wesen trifft, die einst Menschen waren: einen heftigeren Ausdruck als Ronchetti in „Inferno“ kann es dafür kaum geben – und was sollen Bilder da noch an Steigerung bringen?

Es kann laut werden in der Hölle, aber vor allem ist es wahnsinnig kompliziert und abwechslungsreich – letzteres in scharfem Kontrast zur Lage der Seelen, die hier festsitzen und von Dante und uns immer wieder in den unbequemsten und zugleich stupidesten Lagen zurückgelassen werden. Die Hölle ist ein vertrackter Ort, sublim die Misstöne, vertrackt die Rhythmen, merkwürdig die Regeln. Aber es gibt Regeln, in Dantes Hölle und in Ronchettis Musik. Hier wie dort kullert keine Träne, knackt kein Knochen und jammert keine Seele nach Belieben. Und wenn man nicht drinsteckt, ist es zuweilen stimmungsvoll, um nicht zu sagen: schön. Auch darin ist die Oper unschlagbar.

Beteiligt sind 14 Blasinstrumente, vier Schlagzeuge mit insgesamt zwölf Pauken, eine gemischte zwölfköpfige Chorformation, ein Männerstimmen-Quartett und -Trio, ein Streichquartett (das Schumann Quartett) und zahlreiche Solisten und Solistinnen. Die Chorformation steht hinten auf zwei Etagen im inzwischen nicht mehr unvertrauten, infektionshemmenden Setzkasten. Die Blasgruppe sitzt vermutlich aus demselben Grund in einem weiten Halbkreis, die Schlagzeuge sind in allen vier Ecken postiert, in der Mitte ist es ein Kommen und Gehen. Tito Ceccherini hält das als Dirigent glänzend zusammen, selbst wenn allein der kleine Chor gelegentlich in ein Dutzend rhythmisch minimal versetzter Stimmen zerfällt. So unkomplett die Aufführung sein muss, so hervorragend sind die Beteiligten vorbereitet.

Dante ist der Schauspieler Sebastian Kuschmann, der stets auf seinem Podest rechts vom Dirigenten steht und ruhigen Blutes auf den nächsten Schrecken wartet. Kuschmann macht das unaufdringlich intensiv, ein Abenteurer auf der Wanderung, der das praktisch nur mit strahlendem Blick und Körperspannung deutlich machen kann. Aber das gelingt. Das Herren-Quartett flankiert ihn als „innere Stimme“ (Jan Jakub Monowid als hochinteressanter, durchschlagskräftiger Counter, Matthew Swensen, Sebastian Geyer, Eric Ander). Der Schrecken, den Ronchetti ihm aus dem Original selbst zusammengestellt hat, ergibt sich aus dem jeweiligen Auftritt des nächsten Solisten (seltener: der nächsten Solistin) auf dem Podest links vom Dirigenten. Karolina Makula (als sehnende Francesca) und Alexander Kravets (als Ulisse, der Dante ein echtes, intellektuelles Gegenüber ist) sind dabei, Frank Albrecht, Ralf Drexler, Florian Mania, Andreas Gießer und Anna Kubin. Pointierte Rollen, pointiert dargebracht. Alle Beteiligten tragen Pechschwarz. Alle Farbe kommt aus dem, was zu hören ist.

Dem Teufel zuhören

Schließlich taucht Alfred Reiter auf, Lucifero, dessen andere Köpfe Swensen und Geyer sind, aber Reiter gehört der gut hörbare Schlusstext. Ronchetti hat ihn sich von dem Autor Tiziano Scarpa schreiben lassen, denn Dantes Luzifer schweigt sich aus. Jetzt werden wir mit dem Satz „Ich sage nichts ; hast du den Mut, mir zuzuhören?“ nach anderthalb aufregenden Stunden im Dunklen sitzengelassen.

Der Applaus so stark, wie 77 es zuwege bringen, für die anwesende Ronchetti, aber auch für alle Beteiligten dieser gerade im gar nicht Grellen umso imposanteren Unternehmung.

Bockenheimer Depot, Frankfurt: 1., 2., 4., 8., 9. Juli. Der Opernfilm wird dort am 11. Juli zu sehen sein. www.oper-frankfurt.de

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