Es muss nicht wie bei Loriots Kleinem Opernführer auf sieben Zeilen reduziert sein: dass man für Carl Maria von Webers Freischütz nur „einen Wasserfall, […] einen rasenden Eber, ein wildes Geisterheer, diverse entwurzelte Bäume, Platzregen und eine unschuldige Verlobte“ benötige. Daran scheitere jede Inszenierung. Aber auch Dmitri Tcherniakov sagt in einem Interview zu seiner Regiearbeit an der Bayerischen Staatsoper, dass er keinen Bezug zur deutschen Romantik zwischen Wald und Wolfsschlucht habe und mehr auf Unterbewusstsein, Psychologie und Ängste seiner modernen Helden fokussieren wolle. Dabei geht er zumindest nicht so radikal vor wie Ruth Berghaus 1993 in ihrer Zürcher Deutung, die das Umfeld, frei nach Neu-Bayreuther Regiearbeiten, auf wenige schräge Holzpodien und minimale Ausstattung reduzierte.

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Der Freischütz
© Wilfried Hösl

1821 wurde Der Freischütz in Berlin uraufgeführt, schon 1822 in München auf die Bühne gebracht. Seine Mischung aus volkstümlicher Spieloper und dramatisch-romantischem Ringen in Gefühlswirren machten das Werk zu einer Art Nationaloper, ähnlich Wagners Meistersinger. Tcherniakov hat dem Sujet eine 200-jährige Zeitreise verordnet und in Regie und Bühne in eine Gegenwart geholt, die kein romantisierendes Jäger- und Bauernambiente mehr zeigt, sondern in der nüchtern-modernen Lobby einer Firmen-Zentrale in der Großstadt angesiedelt ist. „Durch die Wälder, durch die Auen” wird zu „Durch die Gelder, durch die Bauten“: Bäume sind nicht nur entwurzelt, sondern zu edlen Holzpaneelen verarbeitet, die mit sanftem Schwung die Bühnenbreite füllen und in warmen Palisandertönen Noblesse und sogar etwas Geborgenheit ausstrahlen. Dass sie auch einzeln drehbar aufgehängt sind, wird geschickt für schnelle Auf- und Abtritte sowie gleißende Lichteffekte (Gleb Filshtinsky) eingesetzt; auf der Hinterbühne grüßt der spröde Charme moderner Bürogebäude in Dutzendpack-Architektur von langweiligen Gewerbegebieten. Nach der Online-Premiere im Februar fand nun im Rahmen der Opernfestspiele die erste Live-Aufführung vor Pandemie-bedingt halbgefülltem Haus statt.

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Golda Schultz (Agathe) und Anna Prohaska (Ännchen)
© Wilfried Hösl

Dabei wirkte Tcherniakovs Grundidee, zwielichtige Typen eines Firmenclans aus Büroangestellten und Teamassistentinnen agieren zu lassen, völlig angemessen: an Stelle rural-archaischer Rituale hat modernes Geschäftsleben ebenso brutale Regeln, findet hinter aufgesetzt fröhlichem Schicki-Micki-Talk Mobbing von Außenseitern statt. Sogar die gesprochenen Dialoge wirken dabei durchaus plausibel. Ausgegrenzt von seinen Kollegen ist auch Max, der schon im lindgrünen Strickjäckchen von den smarten Anzügen und Businesskostümen (mondän und geschmackvoll: Elena Zaytseva) seines Teams absticht, nur widerwillig mit reichlich ausgeschenktem Alkohol sich aufputschen will. Dass Firmenchef Kuno die Zustimmung zur Heirat seiner Tochter Agathe von einer Mutprobe abhängig macht, bereitet Max Kopfzerbrechen, und sein Konkurrent Kaspar rät ihm hinterlistig zu Schnaps- und Schampuskonsum. Der Probeschuss soll einen beliebigen Passanten auf der Straße treffen, wird mit Video über die Bühne projiziert. Max, skrupulös und linkisch, will diese moralische Grenze nicht überschreiten; sein gutmütiger Kollege Kilian drückt ab, auf der Straße bricht ein Mann zusammen.

Was online an erklärenden Texteinblendungen noch hilfreich erschien, entwickelt sich auf der Bühne zu einer weiteren virtuellen Bedeutungsebene: bereits in der Ouvertüre werden die Figuren vorgestellt und charakterisiert, neben den Dialogen angenommene (Hinter-)Gedanken der Akteure visuell in den Vordergrund projiziert (Videos: Show Consulting Studio). Gerade in der sensiblen Vielfalt von Webers musikalischer Zeichnung der Personen im Verlauf der Ouvertüre lenkt dies ab. In den Duetten wirkt es oft aufgesetzt und belehrend, bremst den musikalisch verwobenen Handlungsstrang ungeschickt ab, auch wenn es neue Deutungen anstößt, wie die verborgenen Gefühle von Ännchen für Agathe und Max.

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Pavel Černoch (Max) und Kyle Ketelsen (Kaspar)
© Wilfried Hösl

Sängerisch zeigte der erste Akt mitreißende Charakterisierungen der Männerriege: ein jovial wie kaltschnäuziger Firmenboss des Bálint Szabó mit metallisch funkelndem Bassfundament, Milan Siljanov hell timbriert als gut gelaunter Kilian. Max und Kaspar eigentlich wie Zwillinge aneinander gekettet, Exponenten von Gut und Böse: dramatisch und diabolisch der Kaspar des Kyle Ketelsen, der Mann für die Drecksarbeiten, geschäftlich und privat. Sein schwarzer Bass war imposant wie sein Rollenportrait, fast ebenso seelenlos, wenn er zu Samiel wird, dem Alter Ego seiner gespaltenen Persönlichkeit; diese Interpretationslinie überzeugte absolut. Ebenbürtig Pavel Čzernoch, dessen heldischer Tenor auch lyrische Abschnitte bewundernswert gestaltete, in der kernigen Tiefe seines Stimmtyps Max' Zwiespalt zwischen Hoffen und verzweifelten Gefühlsausbrüchen brillant herüberbrachte.

Dass Romantik aufkommen konnte, war das Verdienst von Antonello Manacorda, der bereits in der Ouvertüre faszinierende Klänge aus dem Graben schweben ließ: das Staatsorchester war kleiner besetzt als sonst, mit Abstand zwischen den Musikern; der Klang nicht schwer, sondern aufgeraut, voll dynamischer Finessen, vielfarbig schillernd, solistisch aufgelockert, mit Luft zum Atmen, Motivik wie empfindliche Nervenbahnen eines kostbaren Organismus. Auch der Chor (Stellario Fagone) agierte packend und tonschön.

Wie hält es Tcherniakov mit der Wolfsschlucht, diesem zentralen Unikum der Oper? Wo ist ihre übernatürliche Unwirklichkeit? Kaspar hält Max als Gefangenen im Keller, will Max zum Opfer machen, um sich vom eigenen Dämon zu befreien. Doch eigenartig: das geheimnisvoll Dunkle wirkt nicht, kommt dem Betrachter wie ein Schurkenstück aus dem Tatort vor, das man schon verruchter empfand; teuflische Tritonus-Intervalle finden kein optisches Pendant.

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Kyle Ketelsen (Kaspar)
© Wilfried Hösl

Pures Sopranvergnügen bereiteten Anna Prohaska und Golda Schultz: dem Ännchen, oft nur Agathes Anhängsel, gab Prohaska eigenes Profil, deutete intime persönliche Hoffnungen an. Entsprechend selbstsicher wusste sie ihre wunderbar klare Stimmhöhe einzusetzen, begeisterte mit engagiertem Spiel. Leise fromm wie sphärisch entrückt sang Schultz eine schattierungsreiche, warmherzig feinfühlende Agathe, sich in der Männerwelt behauptend, mit liebevollem Reiz und bezaubernden Koloraturen und Spitzentönen. Traumhaft! Und dann aus unruhigem Traum das offene Ende.

Für alle Protagonisten dieses Experiments gab es schließlich reichen Beifall; da das Regieteam nicht anwesend sein konnte, war ihr Anteil daran schwer abzuschätzen.

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