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Foto: Jean-Louis Fernandez
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Uraufführungen beim Festival in Aix-en-Provence: Kaija Saariaho und Samir Odeh-Tamimi

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Das gibt es bei diesem Festival normalerweise nicht. Aber Corona hat es möglich gemacht, dass in diesem Sommer nicht nur zwei Regisseure mit gleich je zwei gewichtigen Produktionen auf der Agenda der Festspiele in Aix-en-Provence stehen, sondern obendrein sogar zwei Uraufführungen (Kaija Saariahos Oper „Innocence“ und Samir Odeh-Tamimis „L’Apocalypse Arabe“).

Barrie Kosky ist mit Verdis „Falstaff“ und dem ans Ende der Festspiele platzierten „Goldenen Hahn“ von Rimski-Korsakov dabei. Und Simon Stone (*1983) bespielt mit seinen Inszenierungen von Wagners Ausnahmewerk „Tristan und Isolde“ und mit der Uraufführung von Kaija Saariahos fünfter Oper „Innocence“ gleich zweimal hintereinander das Grand Théâtre de Provence. Neben dieser Uraufführung brachte Festspielchef Pierre Audi mit „L’Apocalypse Arabe“ eine Auftragskomposition von Samir Odeh-Tamimi zu dem gleichnamigen Gedichtband der libanesischen Autorin und Malerin Etel Adnan (*1925) heraus. 

Von den Spielstätten in Aix bietet das 2007 mit der „Walküre“ eröffnete, knapp 1400 Plätze fassende, festungsartig großformatige Haus alle technischen Möglichkeiten einer modernen Bühne und für die Wagnerianer (im Gegensatz zu Bayreuth) den Vorzug eines bequemen und gut klimatisierten Zuschauerraumes. Dass man in diesem Sommer hier zwar mit Maske, aber dicht an dicht sitzen muss, ist erstaunlich. Besonders im Kontrast zum Treiben in den Cafés und auf den Plätzen der Stadt. Die zweite Uraufführung, die nach Arles in eine Halle zu Füßen des extravaganten neuen Gehry-Turmes verlegt war, bot in der Hitze des Raumes zusätzlich einen Kreislauflauftest fürs Publikum….

Für Simon Stone war dieser doppelte Einsatz die Chance, dass er mit „Innocence“ – den fatalen Eindruck komplett korrigieren konnte, den sein „Tristan“ hinterlassen hatte. Als ein nur gelegentlich zur Oper wechselnder Schauspielregisseur hat er der theatralischen Wirkung gerade dieser Musik zu offenkundig misstraut. Da es bei „Tristan und Isolde“ um eine eher innere, sich äußerlich nur sparsam offenbarende Handlung geht, ist die Gefahr hier besonders groß, in die Falle zu gehen und die glühende Dramatik der Musik mit einer separaten Handlungsebene zu bebildern. Auf die Idee, das „Oh sink hernieder, Nacht der Liebe“ im zweiten Aufzug mit einer personalintensiven Studie mit vier die Titelhelden simultan doubelnden Paaren in verschiedenen Lebensaltern zu konterkarieren muss man auch erst mal kommen. Die werden inflagranti erst vom Kind, dann vom Ehemann „erwischt“, erleben Scheidung und gemeinsames Altern bis in den Rollstuhl. Das ist zwar – ganz stonelike – äußerst detailreich ausgeführt, aber die Inszenierung schlägt damit einfach die falsche Richtung ein. Stone jedenfalls kommt in den drei Aufzügen mit seiner Reise vom Luxusloft, übers Großraumbüro und in der Metro durch Paris nicht ins Ziel. Erst lässt die dauereifersüchtige Isolde Tristan in der Metro niederstechen, kommt dann aber zurück. An der Endstation Châtelet steigt sie einfach aus, nachdem sie Tristan den Ehering in die Hand gedrückt hat. Für die Station Opéra und den Ausstieg in eine andere Welt war es da eh längst zu spät. So endet mit einer banalen Geste das Gedankenspiel einer kontrafaktischen Erzählung, mit der Stone gegen Wagners Utopie der grenzenlos unmöglichen Liebe aninszeniert hat. Immerhin ließen weder Nina Stemme als Isolde der Extraklasse, noch der Hochleistungs-Tristan Stuart Skelton und die übrigen Protagonisten auf der Bühne, sowie Sir Simon Rattle und sein London Symphonie Orchester einen Zweifel daran aufkommen, dass es hier ein Ausnahmewerk der Musikgeschichte zelebriert wurde. In Aix wird selten mal gebuht – diesmal bekam Simon Stone aber eine veritable Breitseite ab.

Am nächsten Abend freilich herrschte wieder eitel Sonnenschein für den erfolgsverwöhnten Regisseur. Da hatte er den Vorgaben des Librettos von Sofi Oksanen und der Musik der finnischen Komponisten Kaija Saariaho (*1952) auch keine andere Geschichte übergestülpt, sondern sich auf den Psychothriller voll eingelassen. Es geht um ein Schulmassaker und seine Folgen. Für die Davongekommenen und für die Familie des Täters, die mit der Hochzeit des Bruders des Attentäters eine Rückkehr in die Normalität versucht. Was natürlich nicht gelingen kann. Eine kurzfristige engagierte Ersatzkellnerin ist zufällig die Mutter einer der ermordeten Mädchen. Nach und nach steigen die Schatten der zehn Jahre zurückliegenden Katastrophe wieder auf. Durch das auf offener Szene wandelbare Drehbühnenhaus mit seinen zwei Etagen vermischen sich die Zeitebenen. Als der Bräutigam dann auch noch gesteht, dass er eigentlich mit dem Bruder einst zusammen losgezogen war und dann doch rechtzeitig die Flucht ergriffen hatte, bleibt nichts von der Rückkehr in die Normalität übrig. 

Saariahos Musik dazu verdeutlicht mit atmosphärischem Dräuen die rumorenden Traumata ebenso wie die 13 in neun (!) Sprachen agierenden Charaktere, die sich in meist gesprochenen Passagen an den Tag der Katastrophe erinnern und von den Folgen für ihr Leben reden. 

In die Kehle komponiert

Diesmal sorgte die Finnin Susanna Mälkki am Pult des London Symphony Orchestra mit beeindruckender Präzision für das musikalische Fundament eines packenden Gesamtkunstwerkes, das nicht auf die Extravaganz des Neuen schielt, sondern (mit Recht) auf ein Nachleben auf den Opernbühnen der Welt setzt. Bei den Protagonisten sticht die Kellnerin der Magdalena Kožená heraus, der Saariaho die Rolle gleichsam in die Kehle komponiert hat.  Die Finnin Vilma Jää setzt als deren ermordete, aber für die Mutter immer noch sicht- und hörbare Tochter mit markanten Folk-Tönen einen besonderen Akzent. Dass die Spannung über die 105 Minuten der fünf Akte nicht nachlässt, liegt aber auch daran, wie Stone diesen Psychokrimi in Szene gesetzt hat. Die Einblicke in die Räume eines modernen Drehbühnenhauses (von Cloe Lamford), gehört zur Kernkompetenz des Regisseurs Stone – und die spielt er hier perfekt aus. Eine Opernnovität mit Bilderbuchstart und guten Chancen auf ein Nachleben!

Die zweite Uraufführung ist da spezieller. Sie gehört aber zu den Ambitionen des Festivals in Südfrankreich, die kulturell geografische Nähe zum Mittelmeerraum aufzugreifen und dorthin auszustrahlen, um dem dominierenden Eurozentrismus des Opernrepertoires bewusst einen anderen Akzent entgegen zu setzten. Hier zelebriert das Ensemble Modern unter Leitung von Ilan Volkov den faszinierend zwischen raunendem Klangteppich und eruptiven Ausbrüchen, zwischen fremdartig und vertraut changierenden Orchesterklang von Samir Odeh-Tamini. Dieser Klang geht seine eigene Beziehung zu den mit archaischem Pathos vom Chor der fünf wie der griechischen Tragödie entstiegenen Frauen und kurzen, teils im Falsett, gesungenen Passagen vom beindruckend intensiv gestaltenden Thomas Oliemans in der (Haupt-)Rolle des Zeugen ein. Audi hat der vertonten Lyrik einen Raum hinzugefügt, der die Musiker in die Mitte des Publikums platziert, der zentralen Sonne auf der einen Seite der Halle ein schwarzes Quadrat auf der anderen gegenüberstellt. Zu diesen Abstraktionen des Grundsätzlichen, das auch aus den Tiefen der Vergangenheit kommt, werden reale Bilder der Zerstörung in Beirut an die Decke projiziert. Ohne Übertitelung verlässt sich der 80minütige Abend auf die Wirkung der Bilder, das Charismas der Musik und den Klang der Worte der vor der Katastrophe warnenden Lyrik Adnans. Passte in der Halle alles irgendwie zusammen, so war man doch erstaunt darüber, dass danach im Park ein gigantisches Feuerwerk, selbstleuchtende Fassadenkletterer und am Ende Rauchschwaden um das Hotel als Zugabe geboten worden, die das, was man vorher erlebt hatte – mit Verlaub – irgendwo zwischen gedanken- und geschmacklos konterkarierte.

Fazit: Alles in Allem – bietet Aix-en-Provence einen Festspieljahrgang zwischen Scheitern und Gelingen, mit Ärgernissen und Höhepunkten und mit Ambition. Ganz so wie es sich für ein profiliertes Festival gehört.

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