Hier ist Singen der einzige Ausdruck des Humanen in höchster Not

Seit ihren Anfängen versucht die Oper zu rechtfertigen, warum die Handelnden auf der Bühne singen, statt zu sprechen. Zwei Uraufführungen am Festival von Aix-en-Provence geben widersprüchliche Antworten auf diese Urfrage des Musiktheaters.

Michael Stallknecht, Aix-en-Provence / Arles
Drucken
Einfache Bilder mit archaischer Wucht: Szene aus «L’Apocalypse Arabe» von Samir Odeh-Tamimi.

Einfache Bilder mit archaischer Wucht: Szene aus «L’Apocalypse Arabe» von Samir Odeh-Tamimi.

Festival d’Aix

Zuerst das Wort – oder zuerst der Klang? Das ist die Frage, entlang deren das europäische Musiktheater seit vierhundert Jahren in immer neuem Aushandlungsprozess seine vielfältigen Formen hervorbringt. Mit «L’amour de loin» hat die finnische Komponistin Kaija Saariaho im Jahr 2000 bei den Salzburger Festspielen dazu einen der herausragenden Beiträge der letzten Jahrzehnte geliefert: indem sie mit der unerfüllbaren Liebe eines Troubadours das Singen selbst ins Zentrum rückte.

Für «Innocence», ihre jüngste Oper, die nun beim Festival in Aix-en-Provence uraufgeführt wurde, hat ihr die finnisch-estnische Autorin Sofi Oksanen das Libretto geliefert. Es behandelt ein altes, seit der Antike etabliertes Thema: die in einer Familie fortwirkende Schuld.

Indem er eine rumänische Frau heiratet, sucht der zweitjüngste Sohn einer finnischen Familie endgültig der Schande zu entfliehen, die das mörderische Attentat seines älteren Bruders an einer Schule über die Familie gebracht hat. Doch bei der Hochzeitsfeier bedient ausgerechnet eine Kellnerin, die ihre Tochter bei ebenjenem Attentat verloren hat – was eine Kette an Enthüllungen in Gang setzt.

Die Lebenden und die Toten

Die Geister der Vergangenheit bleiben nicht nur als Klang in Gestalt eines unsichtbaren Chores, sondern auch szenisch präsent in den ehemaligen Schülern der internationalen Schule, die zwischen den realen Episoden in ihrer jeweiligen Landessprache von ihrem beschädigten Leben berichten (während das betont multikulturelle Personal untereinander Englisch spricht). Vor allem kann die tschechische Kellnerin, gesungen von der bekannten Mezzosopranistin Magdalena Kožená, ihre tote Tochter nicht vergessen. Dieser leiht wiederum die finnische Folk-Sängerin Vilma Jää das unwirkliche Klanggewand einer mädchenhaft verhauchten Stimme.

Die Welten der Lebenden und der Toten verschwimmen auch in der Inszenierung von Simon Stone, dem die Bühnenbildnerin Chloe Lamford ein doppelstöckiges Haus auf die Drehbühne des Grand Théâtre de Provence gewuchtet hat. Mit jeder Umdrehung verwandelt es sich mehr: vom spiessigen Hochzeitshotel in den Ort des Attentats, dessen blutigen Horror der Regisseur vergegenwärtigt, ohne ihn jemals vollständig zu zeigen.

Nachdem Simon Stone am gleichen Ort diesen Sommer Wagners «Tristan und Isolde» gründlich in den Sand gesetzt hat, gelingt ihm diese Produktion bühnentechnisch so spektakulär wie in der Personenführung brillant; so sehr, dass die Musik bei «Innocence» darüber fast zur Nebensache wird. Das ist freilich auch ein Problem der Komposition von Kaija Saariaho. Dabei ist handwerkliche Virtuosität den Klängen nicht zu bestreiten, die das London Symphony Orchestra unter dem Dirigat von Susanna Mälkki beisteuert. Wie in vielen Werken schafft Saariaho aus kleinteiligen Klangereignissen ein dichtes, in sich schillerndes, stoffgemäss eher dunkles Klanggewebe, das sich über die knapp zweistündige Dauer jedoch kaum entwickelt.

Im Vokalbereich erzielt sie Steigerungen vor allem über den immer dringlicheren, zunehmend perkussiv unterstützten Chor, der freilich allzu deutlich an den guten alten Background-Chor erinnert. Indem vor allem die Folk-Stimme von Vilma Jää zur emotionalen Identifikation einlädt, indem Saariaho die Schüler von Schauspielern sprechen lässt, entzieht sie sich letztlich dem Problem klassischen Gesangs auf dem modernen Musiktheater.

Sängerstimmen dienen hier vor allem der Wiedergabe der Worte, ebenso wie das Orchester nie einen ästhetischen Kontrapunkt zum präzis abschnurrenden, in seiner Enthüllungsdramaturgie aber auch banalen Libretto setzt. Dass der Klang keine Eigenrechte gegenüber dem Wort anmeldet, lässt das Klanggewebe zum blossen Klangteppich werden. Hart formuliert: Saariahos neuste Oper, die bald auch an den koproduzierenden Häusern zwischen London und San Francisco zu sehen sein wird, ist ein brauchbarer Vorabendkrimi mit ordentlich gemachter, aber bedeutungsloser Begleitmusik.

«Mit archaischem Ausdruck»

Dass das Musiktheater noch immer andere ästhetische Potenziale birgt, enthüllt viel stärker die zweite, im Vorfeld weit weniger beachtete Uraufführung beim Festival d’Aix. Für «L’Apocalypse Arabe» von Samir Odeh-Tamimi wird das Publikum eigens mittels Bussen in den LUMA-Park im achtzig Kilometer entfernten Arles entführt, den der Architekt Frank Gehry erst kürzlich mit einem spektakulären Turm gekrönt hat.

Auch Odeh-Tamimi vertraut ganz seinem Libretto – nur dass es sich dabei im Gegensatz zu dem Saariahos nicht um banale Prosa, sondern, wie der israelisch-palästinensische Komponist im Vorfeld zu Protokoll gab, selbst um «grosse Musik» handelt. In ihrem Gedichtzyklus über «Die arabische Apokalypse» aus dem Jahr 1980 hat die libanesische Dichterin Etel Adnan ihre Schreckensvisionen zu jenem Bürgerkrieg festgehalten, der Libanon bis 1990 tatsächlich fast gänzlich zerstört hat.

In seinem szenischen Oratorium lässt der seit langem in Deutschland lebende Odeh-Tamimi die französische Sprache des Originals vor allem mittels eines solistisch besetzten Chores zu Klang werden. «Mit rauem und archaischem Ausdruck», wie es in der Partitur heisst, loten die fünf Sängerinnen die vielfältigen Möglichkeiten rhythmischen Sprechens und Singens aus, während das fünfzehnköpfige Ensemble Modern unter Leitung von Ilan Volkov mit wiederkehrenden Erregungszuständen die grossdramaturgischen Einschnitte setzt.

Wie in der antiken Tragödie, auf die Odeh-Tamimi mit einigen griechischen Passagen anspielt, bleibt der Chor ein neutraler, aber unerbittlicher Beobachter, dem der eindringliche Bariton Thomas Oliemans als einzelner «Zeuge» – als Überlebender – gegenübertritt. Entsprechend geradlinig hält Pierre Audi, der Intendant des Festival d’Aix, die Inszenierung: Während nur wenige projizierte Bürgerkriegsfotografien für Konkretisierung sorgen, umschreitet der Chor das in der Mitte sitzende Publikum, das den ebenso gewaltigen wie gewaltvollen Sprachwelten auf diese Weise kaum entrinnen kann.

Das alles ist einfach, sogar simpel bis zur Obsession, entfaltet in seiner Unerbittlichkeit aber tatsächlich archaische Wucht. Indem Sprechen hier immer wieder ins Singen umschlägt, indem der «Zeuge» auf dem Höhepunkt zum grossen Klagegesang anhebt, erscheint Gesang im Musiktheater nicht als blosse Gattungskonvention, sondern als einziger möglicher Ausdruck des Humanen in höchster Not.

Mehr von Michael Stallknecht (skn)