Salzburger Festspiele: Der Mann denkt mit dem Unterleib und geht über Leichen

Zu Mozarts «Don Giovanni» produzieren Teodor Currentzis und Romeo Castellucci einen beispiellosen Klang- und Bilderrausch. Das ist des Guten zu viel, aber es wühlt auf – und am Ende schlägt das andere Geschlecht zurück.

Christian Wildhagen, Salzburg 7 min
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Donna Elvira (Federica Lombardi) kehrt mit einheimischen Frauen aus Salzburg zurück, um Don Giovanni mit seinen Opfern zu konfrontieren: eine Schlüsselszene aus Romeo Castelluccis Mozart-Inszenierung bei den Festspielen.

Donna Elvira (Federica Lombardi) kehrt mit einheimischen Frauen aus Salzburg zurück, um Don Giovanni mit seinen Opfern zu konfrontieren: eine Schlüsselszene aus Romeo Castelluccis Mozart-Inszenierung bei den Festspielen.

Ruth Walz / SF

Sie waren der hellste Leuchtturm inmitten der Nacht, die sich mit der Corona-Pandemie über das internationale Kulturleben gesenkt hat. Die Salzburger Festspiele, für einmal unangefochten das führende Musikfestival der Welt, nutzten im Sommer 2020 das schmale Zeitfenster vor der zweiten Welle, um allen zu zeigen: Musik und Theater leben noch, sie leben weiter, irgendwie. Denn so schnell, wie die Politik es wollte – sei es aus erschütterndem Desinteresse, aus Handlungsnot oder Profilierungszwang –, lässt sich die Kunst nicht zum Schweigen bringen.

Während andere Festivals reihenweise abgesagt wurden, erlebte man an der Salzach ein Ad-hoc-Programm mit reduzierten Besucherzahlen und strengen Reglements für die Beteiligten, aber ohne eine nennenswerte Anzahl von Ansteckungen. Das war, wohlgemerkt, im Jahr vor der Zulassung der ersten Impfstoffe. Mit diesem Coup hat Salzburg vielen Mut gemacht, voran den lange Zeit unnötig düpierten Künstlern, aber ebenso dem vielerorts auf Nulldiät gesetzten Publikum. Es hat in der hundertjährigen Geschichte der Festspiele keine wichtigere Spielzeit gegeben als die Jubiläumssaison 2020.

Einstehen für die Kultur

Ein Jahr später feiert man an der Salzach immer noch. Die Festspielpräsidentin Helga Rabl-Stadler und der Intendant Markus Hinterhäuser – beide unterdessen sogar mit Orden für ihren Kampf um die Kultur bedacht – haben die Feierlichkeiten kurzerhand verlängert. Das ergibt Sinn, denn in diesem 101. Jahr liefert man einiges aus dem ursprünglichen Jubiläumsprogramm nach.

Auch sonst stehen die Zeichen auf Wiederholung des Coups von 2020, nur dass diesmal, obendrein bei Vollauslastung der Festspielhäuser, noch strengere Auflagen gelten. Denn ein erster Rückschlag ist schon aktenkundig: Nachdem am Tag nach der «Jedermann»-Premiere ein geimpfter Besucher positiv getestet worden war, mussten sich 44 mögliche Kontaktpersonen einem Nachtest unterziehen. Seither gilt überall eine FFP2-Masken-Pflicht, nun auch während der Darbietungen.

Das Erlebnis von Kunst und Kultur bedeutet also im zweiten Corona-Sommer noch immer ein Abenteuer. Und sehr wohl ein gewisses gesundheitliches Risiko, man sollte dies nicht verschweigen. Aber das Zusammenspiel aus persönlichem Wagemut und dem bewussten, vielleicht sogar ein wenig trotzigen Engagement für den Erhalt der Künste scheint die Stimmung bei vielen Festspielgästen auf besondere Weise anzuregen: Man steht zusammen ein für die Kultur, die man nicht den Unbilden der Zeitläufte überlassen will.

In diese Kerbe schlug auch der ehemalige deutsche Kulturstaatsminister Julian Nida-Rümelin bei seiner Rede zur Festspieleröffnung am Sonntag. Er verglich das utopische Potenzial der Künste mit der «humanistischen Utopie» der Demokratie als Staatsform. Für eine beherzte Verteidigung der Demokratie gelte es, den Dystopien von Klimawandel, drohendem Atomkrieg und unkontrollierbarer Maschinenmacht etwas Positives entgegenzusetzen, sagte Nida-Rümelin in der Felsenreitschule, unter anderem in Anwesenheit von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen.

Ob der Philosoph bei seiner Festrede auch das utopische Potenzial der ersten Opernneuinszenierung der Festspiele im Blick hatte? Der Italiener Romeo Castellucci steht für eine ausgesprochen individuelle Form des Musiktheaters, worin installative, rituelle und performative Elemente auf hochästhetische Weise zu kulturellen Bilderreigen verschmelzen. Castellucci ist zudem der tiefgründigste Enzyklopädist unter den Regisseuren unserer Zeit. Das äussert sich in dem umfassenden gedanklichen Unter- und Überbau seiner Inszenierungen, die einem immer wieder das Gefühl vermitteln, man befinde sich gerade in der multimedial angereicherten Blockbuster-Ausstellung eines kunsthistorischen Museums.

«Aha!»-Effekte

Die Kehrseite dieses intellektuellen Ansatzes ist, dass das blosse Ausstellen von Bildungsgut zwar bei kundigen Betrachtern den Wiedererkennungsreiz, vielleicht sogar einen «Aha!»-Effekt auslösen kann. Echte theatrale Spannung, die jede Opernaufführung braucht, um mehr zu sein als eine museale Feier des Repertoires, entsteht jedoch aus der konkreten Aktion, dem handfesten Zusammenspiel der Figuren, aus Bühnenblut, echtem Schweiss und mindestens halbechten Tränen. Wenn Castellucci diese Spannung im Einklang mit der Musik zu erzeugen vermag, gelingen ihm Gesamtkunstwerke von atemberaubender Intensität. Wo nicht, wandelt man immer noch durch eine exquisite, aber kalte Galerie mit Objekten und manchmal hermetisch wirkenden Installationen.

In diesem Spannungsfeld bewegt sich auch die Salzburger Neuproduktion von Mozarts «Don Giovanni» im Grossen Festspielhaus. Wiederum geht Castellucci klug zurück bis an die Wurzeln des Don-Juan-Mythos – bis zum antiken Dionysos und seinen lüsternen Satyrn. Dafür fegt er buchstäblich zuerst den Schauplatz leer: Helfende Geister, von denen es eine Unzahl gibt an diesem Abend, räumen das Innere einer Kirche aus, deren Architektur verblüffend dem Salzburger Domplatz nachempfunden ist, also der traditionellen Spielstätte des «Jedermann».

Als Kreuz und Altar demontiert sind, schickt Castellucci als Erstes einen Ziegenbock quer über die Bühne, die nun magisch in allen Weiss- und Grautönen schimmert (Castellucci ist, wie immer, sein eigener Ausstatter). Noch beim Schmunzeln über die gehörnte Disruption beginnen wir zu grübeln: Aha! Der Ziegenbock gilt seit dem Altertum als Verkörperung männlicher Triebstärke und sexueller Vitalität, er wird mit übernatürlichen Mächten in Verbindung gebracht, seien sie göttlicher oder teuflischer Natur. Gut, dass wir im Lateinunterricht und auch sonst im Leben ein bisschen aufgepasst haben, denn genau darum wird es in den folgenden gut vier Stunden gehen: um die Räusche und Verheerungen, die köstlichsten Verzückungen und die teuflischsten Verbrechen, die Männer in der Weltgeschichte anrichten, sofern sie vorzugsweise mit dem Unterleib «denken».

Wechselnde Fallhöhe

Castelluccis Don Giovanni schleppt also eine ganze Ahnenreihe, eigentlich den gesamten Machismo unserer triebgefährdeten Zivilisation, mit sich herum. Zum Glück beschwert das Davide Luciano, den agilen Sänger der Titelrolle, überhaupt nicht. Gesegnet mit einem edlen, recht leichtgewichtigen Kavalierbariton – nomen est omen –, schreitet er als Latin Lover durchs Geschehen und kümmert sich, ganz in Weiss, überhaupt nicht um die Gefühlswirren, die er überall entfacht. Das ist verblüffend nah an Mozarts und Da Pontes bahnbrechender Konzeption eines galant-abgründigen Homme d’Honneur, der immer nur lustvoll agiert, nie reflektiert. Bei Castellucci wird er bildlich aus dem Feuer geboren und verschwindet am Ende, bei seiner Höllenfahrt, mit einer spektakulären Body-Painting-Aktion des nackten Sängers wieder im weissen Nichts.

Grosse Konfusion und ein bisschen zu viel des Guten: Assoziative Bildarrangements prägen den neuen Salzburger «Don Giovanni» von Romeo Castellucci.

Grosse Konfusion und ein bisschen zu viel des Guten: Assoziative Bildarrangements prägen den neuen Salzburger «Don Giovanni» von Romeo Castellucci.

Monika Rittershaus / SF

Fürs Diabolische hat dieser «Don» in Leporello einen Taschentiger-Mephisto zur Seite, der ihm zum Verwechseln ähnelt und deshalb meist die Prügel einstecken muss. In dem Duo infernale wäre der Diener gern selber der Herr, auch das steht so im Libretto, und man hört, mit welcher sadistischen Freude Vito Priante, minimal dunkler timbriert als Luciano, der armen Donna Elvira (Federica Lombardi, mit Stolz, aber stimmlich etwas verhalten leidend) die endlose Liste der gemeinsam eingefädelten Liebschaften vorlegt. Hier quillt das berüchtigte Eroberungsregister imaginär aus allen Fächern eines in der Luft gespiegelten, also selbst bereits vervielfältigten Fotokopierers.

Das Nebeneinander von solchen gleichzeitig (sur)realistischen wie hintersinnigen Bildarrangements behält Castellucci konsequent bei, etwa wenn er zu Don Giovannis Duett «Là ci darem la mano» mit der blühenden Zerlina von Anna Lucia Richter eine schwarze Kutsche schweben lässt, deren Räder poetisch im Nichts kreisen. Kaum glotzen wir so schön romantisch, fällt eines krachend zu Boden. Überhaupt fällt an diesem Abend einiges vom Bühnenhimmel: ein halber Flügel, auf dem man immer noch (und etwas zu ausgiebig) klimpern kann, und sogar ein ganzes Auto, natürlich ein echter Renommierschlitten.

Das ist des Guten auf die Dauer doch etwas zu viel, nicht nur in der erkennbar kostspieligen Ausstattung. So muss sich der mit überragender Atem- und Legato-Kontrolle singende Michael Spyres als Don Ottavio mit immer pompöseren Kostümen und einem grotesk getrimmten Pudel als Pantoffelheld und Schönredner blossstellen lassen. Und den hintergangenen Bräutigam Masetto (David Steffens) verfolgt eine – ebenfalls sehr lebendige – Ratte, deren Hinterlassenschaft auf dem Bühnenboden von einer Tierpflegerin mit souveränem Schwung weggewischt wird.

Don Juans Opfer

Hier droht der Reigen ins unfreiwillig Komische zu kippen. Aber über eines der zahllosen Bilder mit wechselnder Fallhöhe mag man länger nachsinnen: Irgendwann kehrt Elvira, die hier als Produkt ihrer Liebe einen kleinen Giovanni an der Hand führt, mit einer Gruppe von 150 einheimischen Frauen aus Salzburg zurück. Sie stehen für die Opfer des männlichen Wahns. Sie umkreisen den Wüstling: als Klageweiber, als Nonnen, als Mänaden, und in der Friedhofszene liegen sie schliesslich als Tote zu seinen Füssen. Der Mann, so zeigt sich, geht über Leichen.

Auch musikalisch schlägt das andere Geschlecht zurück, vor allem in Gestalt der überragenden Nadezhda Pavlova als Donna Anna. Mit aussergewöhnlich differenzierter Tongebung und perfektem Stimmsitz zeichnet sie die Zerrissenheit, den Zorn und die tragische Grösse von Mozarts geheimnisvollster Frauengestalt nach – und wird nach der makellos und tief berührend gestalteten Arie «Non mi dir» minutenlang frenetisch gefeiert. Ja, diese Donna Anna verbindet mehr mit dem Verführer – das wissen wir seit E. T. A. Hoffmann längst; hier aber schwingt in jedem Ton das Erschrecken mit über die Gewalt, die der Mann zur Befriedigung seines Begehrens skrupellos einsetzt.

Teodor Currentzis am Pult seines Originalklang-Ensembles Musica Aeterna könnte Pavlova wie auch den anderen Sängern allerdings deutlich mehr Gestaltungsfreiheit lassen. Auch sein Dirigat mit permanent kurz und straff gespannten Zügeln gerät mehr als einmal in den Ruch des Gewollten, ja des Gewaltsamen. Es wäre freilich nicht Currentzis, würde hier nicht jeder Takt, jeder Akzent, jede Moll-Wendung mit einem Maximum an Spannung und Bedeutung aufgeladen. Das ist in der Summe, wie bei Castellucci, des Guten zu viel; aber es packt, wühlt auf und inspiriert. In Salzburg lebt die Kultur nicht nur weiter – sie glüht.

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