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Klassik Bregenzer Festspiele

So viel Spaß kann man haben mit einem Schmerzenskind der Oper

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Religiös gerät in Neros Rom allerhand komplett durcheinander Religiös gerät in Neros Rom allerhand komplett durcheinander
Religiös gerät in Neros Rom allerhand komplett durcheinander
Quelle: © Bregenzer Festspiele/Karl Forster
Es muss wieder brennen: Toll treiben es die alten Römer in der Bregenzer Inszenierung von „Nerone“. Die Oper war ungefähr so lange vergessen, wie der Komponist und Verdi-Librettist Arrigo Boito an ihr gearbeitet hat – ein halbes Jahrhundert.

Sechsundfünfzig Jahre Arbeit an einer Oper, allein zwölf davon Recherche über historische Hintergründe. Die letzten sieben Lebensjahre des Komponisten bleibt sie unvollendet liegen.

Wiederum sechs Jahre nach seinem Tod bringt sie Arturo Toscanini, der sie fertig orchestriert hat, an der Mailänder Scala ohne den unvertonten fünften Akt zur posthumen Uraufführung. Dieser Fall dürfte selbst in der an Kuriosa reichen Musiktheatergeschichte einmalig sein.

Und dabei ist Arrigo Boito (1842 bis 1918) wahrlich kein Unbekannter. In die italienische Literaturgeschichte hat er sich als einer der Feuerköpfe der revolutionären Intellektuellen-Bewegung Scapigliatura eingeschrieben.

Als Bearbeiter von Verdis „Simon Boccanegra“ und Librettist für „Otello“ und „Falstaff“, außerdem für Ponchiellis „La Gioconda“ wurde er unsterblich. Zudem findet seine eigene Oper „Mefistofele“ in den vergangenen Jahrzehnten nicht nur unter berühmten Bässen wieder mehr Beachtung.

Nach der Absage der Bregenzer Festspiele im Corona-Sommer 2020, weil nur 1000 zugelassene Besucher auf der 7000-Plätze-Tribüne vollkommen unwirtschaftlich gewesen wären, spielt man 2021 wieder, ohne Maske, bei voller 3G-Auslastung (die österreichische 3G-Regel: genesen, geimpft, getestet). Und folgt der bewährten Dramaturgie, wie sie schon in der vergangenen Saison, der eigentlich 75. des Vorarlberger Festivals, geplant gewesen wäre.

Auf der Seebühne gibt es also noch einmal den „Rigoletto“ als buntes Zirkusspektakel. Und im Festspielhaus, wo seit jeher Raritäten ihren Platz haben, holt Elisabeth Sobotka, die Italiens Oper des späten 19. Jahrhunderts vehement verteidigende Intendantin, Boitos erstmals seit 1988 in Bielefeld wieder gespieltes Schmerzenskind „Nerone“ nach.

Die Operngeschichte muss nicht umgeschrieben werden

Mit demselben Team, das schon 2016 den ebenfalls auf ein Boito-Libretto entstandenen „Hamlet“ von Franco Faccio exhumierte. Nach diesen Bregenzer Wiederbegegnungen muss zwar selten die Operngeschichte umgeschrieben werden, aber es lohnt trotzdem, diesen nur dem Hörensagen nach bekannten Werken einmal zu begegnen. Gut, dass sie meist auch von 3sat gesendet und auf DVD veröffentlicht werden.

Mit „Nerone“ strebte Arrigo Boito nichts anderes als die perfekte Verbindung von Text, Musik und Szene an. Sein Handlungsvorwurf, der den reifen Kaiser zwischen seinem Künstlerwollen, dem missmutigen Lenken eines von Intrigen wie religiösen Unruhen geschüttelten Staatsgebildes und persönlichen Liebes- wie Mordaffären zeigt, schert sich nicht um Konvention.

Kaum ist Raum für Arien, es gibt nur ein traditionelles Chorfinale im langen ersten Akt. Keiner der meist abstoßenden Charaktere lädt zur Identifikation ein, aber dem übel beleumundeten Diktatorenkaiser soll Gerechtigkeit wiederfahren, indem hier der Gnostiker Simon Magno für den Brand Roms wie für die Christenverfolgung verantwortlich gemacht wird.

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Das alles atmet als gigantisch erdachtes Massenopus den schwülen Hauch der Décadence, in diesem Fin-de-Siècle-Rom unter faschistischen Vorzeichen könnte auch Gabriele D’Annunzio herrschen, mit dem sich Boito nicht nur die Schauspielerin Eleonora Duse teilte. Das Christentum verströmt viel Weihrauch, die Gnostiker spritzen Vitriol, die heidnischen Römer morden. Und zwischendrin schlägt Nero die Leier.

Doch irgendwann war die Zeit über dieses Opus hinweggegangen. Auch wenn Boito interessante, oft altertümlich anmutenden Klänge findet, jede Szene ihren Charakter vom Wagnerismo zum Verisomo wechselt, die Fanfaren schmettern und die Flöten locken, es findet sich keine Melodie, selten Arioses, dafür viel Dauerparlando, kurzatmige Handlungsfetzen.

Dirk Kaftan am Pult der willigen Wiener Symphoniker holt alle Facetten aus dieser mal brütenden, mal explodierenden Partitur heraus, der Prager Philharmonische Chor barmt als Christen und wütet als Römer.

Christenverfolgung unter Kaiser Nero ist das Thema von Arrigo Boitos Torso-Oper
Christenverfolgung unter Kaiser Nero ist das Thema von Arrigo Boitos Torso-Oper
Quelle: © Bregenzer Festspiele/Karl Forster

Olivier Tambosi zwängt die ausufernden Tableaux zwischen Muttermord, Arenagemetzel, immer ein wenig scheinheiligem Katakombengottesdienst und Leichenfledderei gekonnt in einen dunkles, von verschiedenfarbigen Neonsäulen erleuchtetes Drehbühnenlabyrinth von Frank Philipp Schlössmann.

Rafael Rojas ist ein baritenoraler Nero, der sich zwischenzeitlich als Frau in der Robe seiner von ihm ermordeten Mutter Agrippina ausprobiert, eine spukhafte Figur, die immer mehr aus der Oper entschwindet. Auch wenn er im nicht komponierten fünften Akt noch eine große Todesszene als Orest vor den Erinnyen gehabt hätte, der offene Schluss wirkt überzeugender.

Ähnlich wie Otellos böses Fatum Jago gibt hier der als solcher erprobte Lucio Gallo in der Rolle des Simon Mago dem Intriganten schillernde Faszination. Brett Polegato mit Dornenkrone mimt als Christenanführer den Ersatzjesus.

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Die Frauen fallen ab: Svatlena Aksenova ist die Verführerin Asteria, die an Soprangrenzen gerät, Alessandra Volpe windet sich in blutüberströmter Ekstase als sterbende Rubria, die sich von der Vestalin noch nicht ganz zur Nonne gewandelt hat.

Toll treiben es also mal wieder die alten Römer. Wir dürfen gespannt sein, ob es mal ein Opernhaus wagt, Monteverdis „Poppea“, Händels „Agrippina“ und Boitos „Nerone“ zur Orgientrilogie zu bündeln…

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