Premiere bei den Bayreuther Festspielen
So war es 2021: Warum dieser "Tannhäuser" so frech und unkonventionell ist
28.7.2021, 11:52 Uhr1. Regie konfrontiert den jungen mit dem etablierten Wagner
Ein Jahr musste er coronabedingt in der Garage bleiben, nun ist der Bayreuther „Tannhäuser“ wieder on the road – und mit der Premiere am Dienstag gleich in der Erfolgsspur.
Der 41-jährige Regisseur Tobias Kratzer hetzt in seiner klugen, hintersinnigen und witzigen Inszenierung den jungen Wagner der Dresdner Revolution von 1849 gegen den etablierten Wagner, der sich von Bayerns Märchenkönig Ludwig II. sein Festspielhaus auf dem Grünen Hügel finanzieren hat lassen.
Hätte der junge Wagner als Tannhäuser im Clownskostüm Zutritt zum kommerzialisierten und polizeibewachten Festspielbetrieb von heute?, fragt Kratzer. Und antwortet mit einem eindeutigen Nein.
2. Tannhäuser wird zum Anarcho-Clown
Mit der wilden Erotik-Königin Venus, dem kleinen Blechtrommler Oskar (Manni Laudenbach) und einer Dragqueen (Kyle Patrick) gondelt der Anarcho-Clown in einem Uralt-Wohnmobil durch die Lande.
Die Truppe klaut sich zusammen, was sie zum Leben braucht. Doch als bei einem Beutezug ein Wachmann stirbt, kriegt Tannhäuser Zweifel und will zurück in sein altes Leben – in dem er die „Tannhäuser“-Titelpartie im Bayreuther Festspielhaus gesungen hat.
3. Der Clown springt aus dem fahrenden Auto
Bei der Fahrt von Thüringen nach Oberfranken streitet er sich heftig mit Venus und springt in Bayreuth aus dem Auto. Dort wird er von seinen ehemaligen Minnesängerkollegen gleich wieder freudig aufgenommen, um die Hauptrolle in einer altdeutschen, biederen „Tannhäuser“-Aufführung zu übernehmen, in der der Wartburgsaal vor dunklem Stein und Holz nur so strotzt.
4. Regie zeigt im Festspielhaus Backstage-Videos
Kratzer packt dies in einen Guckkasten, projiziert darüber live gefilmte Backstage-Bilder, lässt Theater im Theater spielen. Das schafft ironisch gebrochene Momente. Nebenbei bekommt man mit, wie Tannhäusers alte Weggefährten das Festspielhaus entern, um die Oper zu stören.
5. Die zwei starken Frauen der Oper treffen direkt aufeinander
In dieser wirbt Tannhäuser um die ihn liebende, christlich-enthaltsame Elisabeth. Nun stellt sich ihr Venus in den Weg. Kratzer kreiert hier die direkte Konfrontation der beiden unterschiedlichen Frauen, die das zerrissene Wesen Tannhäusers zwischen erotischer Lust und geistig überhöhter Liebe symbolisieren.
6. Die Festspielchefin ruft die Polizei
So viel Unruhe auf der Bühne ist der im Video eingespielten Festspielchefin Katharina Wagner zu viel, sie ruft die Polizei, die prompt die Störer abführt. Tannhäuser kann nun weder in sein wildes, noch in sein seriöses Leben zurück, verzweifelt pilgert er zum Büßen nach Rom, doch der Papst lässt ihn abblitzen.
7. Videos verzahnen Bühnen- und Filmaction
Dank der raffinierten Videos von Manuel Braun, die Bühnen- und Filmaction geschickt verzahnen, hat diese Aufführung viel Drive. Und so keck und mutig Kratzer inszeniert, so ernst nimmt er das Scheitern und die seelischen Nöte Tannhäusers und Elisabeths, die schließlich beide auf einem Schrottplatz zu Tode kommen.
8. Eine taffe Venus
Die Sängerinnen und Sänger steuern tolle spielerische Leistungen bei. Ekaterina Gubanova gibt bei ihrem Bayreuth-Debüt die Venus als taffes, sportliches Glitter-Girl, das auch die billigen Verführungstricks kennt und mit ihrem farbigen, kraftvollen Mezzo keinen Gefühlsausbruch scheut.
9. Ein melancholischer Clown
Stephen Gould, in Bayreuth als langjähriger Siegfried und Tristan schon eine Tenorlegende, interpretiert den Tannhäuser von Anfang an als eher traurig-tiefsinnigen Clown. Den jugendlichen Bilderstürmer nimmt man ihm nicht ganz ab, auch stimmlich ist er nicht mehr so beweglich, kann aber dafür mit dramatischer Schwere und expressiver Emotion punkten.
10. Die heilige Elisabeth wird körperlich
Lise Davidsens Sopran zeichnet eine Elisabeth im Ausnahmezustand. Sie gibt dieser oftmals ätherisch gezeichneten Gestalt mit ihrem klar geführten und in den Höhen geschärften Sopran intensive Emotionen und damit Körperlichkeit und Menschlichkeit.
11. Ein zwielichtiger Wolfram
Günther Groissböck, der eben erst sein Wotan-Engagement gekündigt hat, singt einen sehr noblen Landgrafen; Markus Eiche gelingt als Wolfram von Eschenbach ein ungewöhnliches Rollenporträt: Er gibt dem angeblich so noblen Minnesänger etwas Zwielichtiges.
12. Schneller Sex auf dem Schrottplatz
Auf dem Schrottplatz scheut er nicht davor zurück, Tannhäusers altes Clownskostüm anzuziehen, um die für ihn eigentlich unerreichbare, aber schon gebrochene Elisabeth mit dieser schalen Illusion zu schnellem Sex zu verführen.
13. Dirigent entfaltet Dynamik und Drive
Axel Kober, der GMD der Deutschen Oper am Rhein, etabliert sich in Bayreuth als verlässlicher Garant für nicht nur solide, sondern inspirierte Wagner-Interpretationen. Nach dem „Holländer“ ist er nun wieder zum „Tannhäuser“ zurückgekehrt, grundiert ihn lyrisch, entfaltet aber genügend Dynamik und Dramatik, um Kratzers Bühnentempo mitzugehen.
Die Koordination mit den Chören gelingt gut, auch wenn diese, wie schon bei der „Holländer“-Premiere zur Festspieleröffnung, in diesem Jahr nicht so voll und im Piano nicht so differenziert klingen. Denn sie werden von einer Nebenbühne zugespielt, weil das die Aerosol-Belastung im Festspielhaus reduzieren soll.
14. Aktuelle Anspielungen halten die Inszenierung up to date
Dank Kobers runder Leistung vermisst man in keinem Moment das flattrige Dirigat des russischen Maestros Valery Gergiev beim „Tannhäuser“ 2019. Doch Regisseur Kratzer erinnert mit einem Bildgag an dessen Stippvisite in Bayreuth. Und baut in die Videos auch die allgegenwärtigen Corona-Tests mit ein. Damit ist dieser „Tannhäuser“ in jeder Hinsicht auf der Höhe unserer Zeit.
Dieser Artikel erschien erstmals am 28. Juli 2021. Alle Angabe zu Besetzung und Team, auch in den Bildbeschriftungen, beziehen sich auf das Festspieljahr 2021 und weichen zum Teil von der Gegenwart ab.
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