Mozarts „Don Giovanni“ in Salzburg – Abgesang auf den Machismo

Großes Festspielhaus
© Salzburger Festspiele / Andreas Kolarik

Es regnet in Strömen. Der Einlass in das Festspielhaus dauert deutlich länger als gewohnt, denn jeder Besucher muss neben seiner personalisierten Eintrittskarte seinen Pass oder Personalausweis und einen Impfnachweis oder ein negatives Testergebnis vorweisen und eine FFP2-Maske tragen. Alle 2200 Plätze im Festspielhaus sind zu Preisen bis 450 € pro Karte ausverkauft, es liegt Spannung in der Luft. Die Kombination Romeo Castelluci – Teodor Currentzis verspricht außergewöhnliches Musiktheater.

(Rezension der besuchten Vorstellung v. 4. August 2021

 

 

Der Vorhang öffnet sich, man blickt in eine Kathedrale mit Kreuz, Tabernakel und Kirchenbänken. Noch keine Musik. Romeo Castellucci zeigt im Großen Festspielhaus vor der Ouvertüre, wie diese Kirche ausgeräumt und das Kreuz abgehängt wird, ein Auto kracht von der Decke auf die Bühne, es ist laut, Baulärm und Straßenlärm. Es bleibt ein riesiger kahler weißer Raum, der später mit weißen Tüchern verhangen wird. Nach acht Minuten Action setzt die Ouvertüre ein.

Salzburger Festspiele 2021/ Don Giovanni /Federica Lombardi (Donna Elvira), Vito Priante (Leporello) © SF / Ruth Walz

Alle christlichen Symbole werden mit großem Lärm von der Bühne getragen, abgesehen von ein paar als Bauarbeiter gekleideten Statist*innen ist nichts mehr auf der Bühne. Jegliche Konventionen sind entsorgt, es zählen nur noch Sex, Macht und Tod. Castellucci visualisiert die zahlreichen Frauen, die Don Giovanni verführt hat, mit einem Heer von Statistinnen und Doubles. Im 2. Akt kommen 150 Salzburgerinnen in schlichten Kleidern in Farbtönen von Weiß bis dunkelrosa auf die Riesenbühne: junge, alte, dicke, dünne, blonde, brünette – alle von Don Giovanni missbraucht. In sorgsam choreografierten abgezirkelten Gängen verfolgen sie Don Giovanni.

Den Friedhof spielen in Shakespeare-Tradition schwarz gekleidete Frauen, die sich in einer Anordnung wie Gräber hinlegen. Der Commendatore (Mika Kares) tritt nur als Lebendiger auf, als steinerner Gast wird seine mächtige Bassstimme aus dem Off verstärkt. Nach der Friedhofsszene stehen die etwa 50 schwarz verschleierten Frauen auf und werfen zu Cembalo-Klängen, die ich noch nie in „Don Giovanni“ gehört habe, wütend die Haare zurück – das Aufbegehren der betrogenen Frauen war noch nie so plastisch spürbar wie hier. Einige Buhs, weil die Szene naturgemäß die Handlung aufhält.

Salzburger Festspiele 2021/Don Giovanni /Davide Luciano (Don Giovanni), Federica Lombardi (Donna Elvira) © SF / Ruth Walz

Schon Da Ponte und Mozart zeigen am Beispiel von Donna Anna, Donna Elvira und dem Bauernmädchen Zerlina, wie Don Giovanni, (Davide Luciano) einfach nur ein verwöhnter, sexsüchtiger Müßiggänger, vorgeht. Leporello, (Vito Priante) sein alter Ego, im gleichen weißen Anzug, ist nicht nur bei der Verführung von Elviras Zofe Don Giovannis Doppelgänger. Er kann die Liste der Eroberungen des Edelmanns als Dritter natürlich viel besser vortragen als Don Giovanni selbst. Davide Luciano hat etwas mehr verführerischen Schmelz in der Stimme, Priante wirkt etwas rustikaler, aber sie können einander trefflich imitieren.

Absoluter Star ist Tenor Michael Spyres als Don Ottavio. Er verkörpert die Macht, unter anderem mit einer weißen Operettenuniform oder mit einem wehenden weißen Mantel, den er kaum bändigen kann, und singt wie ein Gott. Ihm gesteht Currentzis unfassbare Verzierungen und Koloraturen zu, die zum Teil in der Neuausgabe der Oper von 2002 notiert sind. Wie Spyres mit seiner seidenweichen ausgesprochen schönen und sehr flexiblen höhensicheren Stimme die beiden großen Arien zelebriert und sich auch nicht von den beiden weißen lebenden Pudeln oder den zusätzlichen Armen, die man ihm angehängt hat, irritieren lässt, hat das Publikum zu orkanartigem Beifall hingerissen. So könnte Mozart sich den Don Ottavio im Gestus eines barocken Opernhelden vorgestellt haben!

Salzburger Festspiele 2021/Don Giovanni /Michael Spyres (Don Ottavio), Nadezhda Pavlova (Donna Anna) © SF / Ruth Walz

Ihm ebenbürtig agiert Nadezhda Pavlova als Donna Anna. Auch sie eine Ausnahmekünstlerin, die mit den erstaunlichsten nie gehörten Verzierungen und Spitzentönen den Ausdruck ihres lyrisch-dramatischen Soprans steigert um große Gefühle – den Schmerz um den Tod ihres Vaters und die Rache an Don Giovanni – zu gestalten. Die Tempi der Arien und Ensembles werden fast alle sehr gemächlich genommen – man fragt sich mitunter, wie die Sänger*innen bei den langen Phrasen atmen – und wirken fast zerdehnt und überinterpretiert, was mir vor allem beim Rezitativ und Duett „La ci darem la mano“ aufgefallen ist, bei dem die entzückende Anna Lucia Richter von einer nackten Statistin gedoubelt wurde, mit der Don Giovanni schmuste.

David Steffens brachte, bewaffnet mit Sichel und später mit Flinte, einen sehr wütenden und bedrohlichen Masetto auf die Bühne. Federica Lombardi als Donna Elvira, die ein etwa vierjähriges Kind (von Don Giovanni) präsentierte, das diesen ganz schön bedrängte, verdeutlichte – ebenfalls mit ungeahnten Verzierungen – die undankbare Rolle der sitzen gelassenen Frau, die trotz allem dem Verführer so verfallen ist, dass sie bereit ist, ihm alles zu verzeihen, wenn er nur zu ihr zurückkehrt. Das Kind entsteigt übrigens einem auf die Bühne gerollten Sessel und verfolgt ausdauernd Don Giovanni, der Haken schlagend dieser Zudringlichkeit zu entkommen trachtet. Donna Anna, in deren Haus Don Giovanni eindrang und sie in ihrem Schlafzimmer bedrängte – man erfährt in der von Statisten gedoubelten Szene , dass es wohl doch zum Äußersten gekommen ist, aber er wird von ihrem Vater erwischt, den er im Duell skrupellos umbringt – ist diejenige, die mit Hilfe ihres Verlobten Don Ottavio endlich schafft, Don Giovanni zu entlarven und auf seinem Fest anzuklagen und vorzuführen. Im Fall von Zerlina, die gerade ihren Masetto geheiratet hat, gelingt es Don Giovanni mit Liebesgesäusel und einem Heiratsversprechen, das naive Bauernmädchen flachzulegen, was auch um ein Haar gelungen wäre, hätte man ihn nicht überrascht.

Es wird auf allerhöchstem Niveau gesungen und musiziert. MusicAeterna ist ein dem Originalklang verpflichtetes Orchester. Der MusicAeterna-Chor verbreitet aus dem Orchestergraben die bedrohliche Atmosphäre zu Don Giovannis Höllenfahrt, bei der dieser sich in Zuckungen windet und mit weißer Farbe zum Skelett verwandelt. Auch das Schluss-Sextett wird vom Chor übernommen, während sich die Protagonisten davonmachen und als lebensgroße Gipsabdrücke wie nach dem Vulkanausbruch in Pompeji auf die Bühne gelegt werden, auch dies ein Memento mori.

Teodor Currentzis/ @Nadia Romanova

Der eigentliche Star der Produktion ist Teodor Currentzis, der den Sänger*innen ungeahnte Freiheiten gibt und im Wesentlichen der Prager Fassung folgt. Etwas zahmer als in seiner CD-Einspielung von 2016 abstrahiert er von allen Unsitten der romantischen Aufführungspraxis und lässt sein hervorragendes Ensemble alle Phrasen mit auffallend langsamen Tempi voll ausformulieren und ausloten. Im Gegensatz zu den meisten Szenen und Ensembles wird die „Champagnerarie“ mit Stroboskopbeleuchtung vom aus dem Orchestergraben hochgefahrenen Orchester als ekstatischer Minutenwirbel runtergefetzt, während Teodor Currentzis in skinny Jeans und schwarzem Kittel wie ein Derwisch den Takt tanzt.

Romeo Castellucci /© SF/Anne Zeuner

Romeo Castellucci liefert dazu eine Visualisierung, die alle Register des Live-Theaters zieht, die man sich nur vorstellen kann. Lebende Tiere (eine Ziege, eine Ratte, ein kleiner und ein großer weißer Pudel) auf der Bühne, Gegenstände, die von der Decke fallen, unter anderem jede Menge Bälle, die von Don Ottavio zerstochen werden, ein Rollstuhl, ein Auto und ein Flügel, auf dem Don Giovanni klimpert, ein Haufen Wohlstandsmüll, der am Ende des 1. Akts auf der Bühne liegt, und vor allem die 150 Salzburgerinnen, die einige der 2065 Frauen verkörpern, die Don Giovanni betrogen hat. Endet der 1. Akt mit der Anklage des Vergewaltigers Don Giovanni durch Donna Anna, Donna Elvira und Don Ottavio, so zeigt der 2. Akt, dass Don Giovanni mit seinem Charme nicht mehr durchkommt. Die 150 Frauen, die ihn verfolgen, die Höllenfahrt, die er hinter einem Gazevorhang imaginiert, das alles ist ganz großes Theater mit gewaltigen Effekten. 

Jürgen Kesting wirft in der FAZ vom 28.7.2021 Currentzis und Castellucci in seiner Rezension „rasenden Stillstand“ und Manierismus vor und behauptet, Mozarts Musik werde zu „Material für einen neuen Führerkult“ um Teodor Currentzis.  In der Tat erzeugen Currentzis und Castellucci  gewaltige Effekte, die nicht immer dramaturgisch erklärt werden können, aber sie regen zum Nachdenken über dieses Lehrstück des Machismo an. Ich sehe in Currentzis einen Originalton-Fanatiker, der mit der überkommenen Praxis, Mozart mit den musikalischen Mitteln des 19. und 20. Jahrhunderts aufzumotzen, aufräumt, und der mit seinem brillanten  musicAeterna-Orchester, dem musicAeterna-Chor und dem hervorragenden Weltklasse-Ensemble dem nachspürt, was zu Mozarts Zeit die Erfüllung hätte sein können. Mit Castellucci hat er einen Regisseur, der die Handlung so visualisiert, dass auch aufgeklärte Zuschauer*innen des 21. Jahrhunderts das „Dramma Giocoso“, das vor Einfällen strotzt, interpretieren können. Die 150 Frauen, die ihn verfolgen, treiben Don Giovanni letzten Endes in den Wahnsinn, wie Christiane Lemke-Matwey in der „Zeit“ vom 29.7.2021 schreibt. Der steinerne Gast ist eine Einbildung Don Giovannis, er bleibt ein verwöhnter Sexsüchtiger, der seinem Tod nicht entkommen kann.

Salzburger Festspiele 2021/ Don Giovanni / Nadezhda Pavlova (Donna Anna), Ensemble
© SF / Ruth Walz

Kein sympathisierendes Augenzwinkern mehr, dass er ja doch ein toller Hecht ist! Der Tod ereilt ihn nach dem Duell, bei dem er den Commendatore tötet, und er richtet sich selbst, was keine irdische Macht vermag. So ist „Don Giovanni“ auch eine Oper über den Tod. Es bleibt der Eindruck eines ergreifenden Theatererlebnisses, das alle musikalischen und visuellen Register zieht und zu lebhaften Diskussionen über Mozarts Oper anregt. Das Musiktheater ist durch nichts zu ersetzen!

 

Arte sendet die 236 Minuten dauernde Aufzeichnung aus dem Großen Festspielhaus am Samstag, dem 7. August 2021 um 22.05 Uhr.

 

 

  • Rezension von Ursula Hartlapp-Lindemeyer
  • Salzburger Festspiele / Stückeseite
  • Titelfoto: Salzburger Festspiele 2021/Don Giovanni /Nadezhda Pavlova (Donna Anna), Ensemble, © SF / Monika Rittershaus
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