Salzburger Festspiele: Wie man Strauss-Dämonen zu Mendelssohn-Elfen macht

Franz Welser-Möst und die Wiener Philharmoniker triumphieren bei den Salzburger Festspielen in zwei extremen Werken von Richard Strauss: Ihre gemeinsame Auseinandersetzung mit «Elektra» und der «Alpensinfonie» ist wegweisend.

Christian Wildhagen, Salzburg 6 min
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Im familiären Leid vereint: Aušrinė Stundytė (links) und Vida Miknevičiūtė als ungleiche Schwestern Elektra und Chrysothemis in der Salzburger «Elektra» von Richard Strauss.

Im familiären Leid vereint: Aušrinė Stundytė (links) und Vida Miknevičiūtė als ungleiche Schwestern Elektra und Chrysothemis in der Salzburger «Elektra» von Richard Strauss.

Bernd Uhlig / Salzburger Festspiele

Über den Dirigierstil von Richard Strauss sind allerlei Legenden in Umlauf. Strauss selbst schrieb im Jahr 1925 einem jungen Kapellmeister, aber wohl auch sich selber zehn «Goldene Regeln» ins Stammbuch, die noch heute gültig sind. «Du sollst beim Dirigieren nicht schwitzen, nur das Publikum soll warm werden», lautet etwa die zweite dieser Regeln.

Sie charakterisieren einen bestimmten Typus des Orchesterleiters, der in der frühen Moderne allmählich die Oberhand gewonnen hat, namentlich über den lange vorherrschenden Pult-Charismatiker vom Schlage Gustav Mahlers oder Wilhelm Furtwänglers. An die Stelle des Ausdrucksmusikers tritt der Sachwalter der Partitur, dem es weniger ums eigene Ego als um die möglichst ideale Realisation des Notentextes zu tun ist.

Von Strauss sind späte Filmdokumente überliefert, in denen er die gestaltende linke Hand eng am Körper oder sogar in der Tasche hält, während die rechte noch im Alter mit gleichsam federnder Präzision, aber völlig unaufgeregt den Takt angibt. Darüber hinaus erkennt man ein paar wenige Einsätze, die vorzugsweise mit einem knappen, hellwachen Blinzeln der Augen angezeigt werden; äusserlich wahrnehmbare Emotionen sieht man dagegen kaum.

Dieses Musizieren vertraut offenkundig vollständig auf die Qualität des Orchesters und die Genauigkeit der vorangegangenen Einstudierung des Notentextes, in dem alles Wesentliche fixiert ist. Man muss dies im Hinterkopf haben, um ermessen zu können, wie nah Franz Welser-Möst dem Straussschen Ideal mit seinen jüngsten Dirigaten der Wiener Philharmoniker an den Salzburger Festspielen kommt.

«Elfenmusik»

Welser-Möst, in den Jahren 1995 bis 2008 Chefdirigent und GMD der Oper Zürich, seither Musikdirektor des Cleveland Orchestra und seit Jahren eine Art Kronprinz in Salzburg, hat mit den Wienern bereits in den vergangenen drei Sommern unter Beweis gestellt, dass sich auch die dritte der «Goldenen Regeln» von Strauss umsetzen lässt: «Dirigiere ‹Salome› und ‹Elektra›, als seien sie von Mendelssohn: Elfenmusik.» Angesichts der vom Komponisten geforderten Zahl an Mitwirkenden – allein die Orchester der beiden Opern umfassen jeweils etwa hundert Spieler – erschien diese Forderung lange Zeit wie eine bewusst überspitzte Utopie.

Doch schon bei der gefeierten Salzburger Produktion der «Salome» war 2018 und 2019 zu erleben, dass sich die schillernde, überreiche Partitur ohne Einbussen an Farben, an Klangintensität und an dramatischer Wirkung tatsächlich so schwerelos dirigieren lässt wie eines der berühmten Luftgeister-Scherzos, die durch Mendelssohns Musik zum «Sommernachtstraum» zu einem Topos der Musikgeschichte geworden sind.

Bei der Wiederaufnahme der «Elektra», die im Corona-Sommer 2020 Premiere in der Felsenreitschule hatte, gelingt Welser-Möst und den Wiener Philharmonikern nun nochmals eine Steigerung: Der noch grösser besetzte Einakter von 1909 klingt hier stellenweise so transparent, klar und bis in die feinsten Nervenverästelungen ausdifferenziert, als wäre diese radikalste aller Strauss-Partituren ein Seitenstück zum drei Jahre jüngeren «Pierrot lunaire» von Arnold Schönberg.

Gleichzeitig lässt Welser-Möst aber auch die vielen Vorahnungen des unmittelbar nachfolgenden «Rosenkavaliers» leuchten und glühen, ohne dass es zu einem offenen Stilbruch kommt, vor allem in Elektras (Walzer-)Tänzen und in den Szenen der lebenshungrigen Chrysothemis. Selten zeigt sich so deutlich: Die Wende, die Strauss angeblich mit der «Komödie für Musik» um 1911 vollzogen hat, ist gar keine – jedenfalls bedeutet der «Rosenkavalier» keine reaktionäre Umkehr, eher einen bewussten Paradigmenwechsel nach dem avantgardistischen Extrem, das Strauss mit der Atriden-Tragödie erreicht und als Endpunkt seiner persönlichen Entwicklung erkannt hatte.

Auch eine Familienaufstellung hilft ihr nicht: Tanja Ariane Baumgartner als neurosengeplagte Klytämnestra in Salzburg.

Auch eine Familienaufstellung hilft ihr nicht: Tanja Ariane Baumgartner als neurosengeplagte Klytämnestra in Salzburg.

Bernd Uhlig / Salzburger Festspiele

Wie radikal, ja geradezu hemmungslos hier manches komponiert ist, hört man an diesem Abend exemplarisch in den Szenen der Klytämnestra, die Tanja Ariane Baumgartner nicht als gefühlskalte Mörderin ihres Gatten Agamemnon darstellt, sondern als eine im Innersten zerrissene, auch tief gedemütigte Mutter, die keinen Ausweg mehr aus dem fatalen Kreislauf von Opfer, Schuld und Rache sieht, der ihre Familie unablässig weiter in den Abgrund reisst. Das hat viel mit Freud und der damals aufblühenden Psychoanalyse zu tun, aber mehr noch mit archaischen Gefühlen wie verweigerter Liebe, verletztem Stolz und namenlosem Hass.

Zurücknahme ins Leise

Musikalisch entfaltet sich diese packende Wirkung freilich gerade nicht durch Lautstärke oder emotionale Exzesse, sondern durch die Zurücknahme ins Leise. Hier brodelt und kocht es buchstäblich unter der Oberfläche, und die derzeit konkurrenzlose Piano-Kultur der Wiener Philharmoniker, besonders eindringlich in der gespenstisch-fahlen Traumszene («Ich habe keine guten Nächte»), sorgt dafür, dass jede Regung wie ein unterdrückter Aufschrei mit zusammengepressten Lippen wirkt. Mendelssohns Elfen nehmen da entschieden dämonische Züge an.

Die strikte Kontrolle der Dynamik, die für das Orchester mittlerweile so natürlich geworden ist, dass Welser-Möst sie im breiten, offenen Graben der Felsenreitschule nicht einmal mehr einfordern muss, hat den beglückenden Nebeneffekt, dass die Sänger ihre Partien wirklich gestalten können, anstatt, wie so oft bei «Elektra», bloss gegen die überbordenden Klangwogen aus dem Graben anzukämpfen. «Begleite den Sänger stets so, dass er ohne Anstrengung singen kann», lautet die leider allzu oft ignorierte achte der «Goldenen Regeln».

Die auf die Titelrolle spezialisierte Sopranistin Aušrinė Stundytė, in Zürich als Renata in Prokofjews «Feurigem Engel» unter Gianandrea Noseda in bester Erinnerung, nutzt den gewonnenen Freiraum für eine Vielzahl an Zwischentönen, wie man sie sonst nur in Studienaufnahmen dieses vokalen Höllenritts zu hören bekommt.

In Vida Miknevičiūtė, die als Elektras Schwester Chrysothemis ihr Debüt bei den Salzburger Festspielen feiert, hat Stundytė eine ideale Partnerin, aber auch Gegenspielerin zur Seite. Denn die Stimme der Sopranistin – wie Stundytė aus Litauen stammend – ist etwas heller und lyrischer timbriert, sie glänzt weniger durch vokale Attacke als durch weite Strauss-Bögen und harmoniert doch gerade durch den Kontrast ideal mit dem finster-fatalistischen Ausdruck von Stundytė. Verglichen mit Asmik Grigorian, der Premierenbesetzung von 2020, die derzeit in Bayreuth als Senta umjubelt wird, wirkt Miknevičiūtė sogar noch eine Spur stimmiger in der Rolle – was einiges heissen will, nicht zuletzt für die Zukunft dieser vielversprechenden Sängerin.

Mit dem englischen Bariton Christopher Maltman ist der Orest wiederum ausgesprochen luxuriös besetzt – freilich zu Recht, denn der mit seiner Rachetat hadernde und schliesslich an ihr zerbrechende Muttermörder ist eine Schlüsselfigur in Krzysztof Warlikowskis tiefenpsychologisch unterfütterter Inszenierung. Warlikowski verhilft mit diesen offen gezeigten Zweifeln am Sinn des ewigen Opferns und Mordens auf sehr einleuchtende Weise Hofmannsthals originalem Dramentext zu seinem Recht gegenüber der bewussten Verkürzung von Strauss, der Orest aus dramaturgischen Gründen lediglich als düster-entschlossenen Tatmenschen zeichnet. Auch sonst ist die Inszenierung im Sinne des Werkstattgedankens in vielen Einzelheiten nochmals geschärft und vorbildlich einstudiert worden. Nach der umstrittenen «Don Giovanni»-Premiere am Vorabend wird diese Wiederaufnahme zum einhelligen Erfolg für die Festspiele. Und ihm folgt, gleich am nächsten Abend, noch ein weiterer.

Ein neuer Strauss

Bei einem Konzert im Grossen Festspielhaus setzen Franz Welser-Möst und die Wiener Philharmoniker ihr exemplarisches Ringen um einen modernen Strauss-Stil fort. Neben den von Matthias Goerne sehr eindringlich gesungenen «Jedermann»-Monologen Frank Martins steht nämlich die «Alpensinfonie» im Mittelpunkt des Programms. Und zwar – man höre und staune – in der vollen, nicht durch Corona-Massnahmen beschränkten Riesenbesetzung (Impfungen und engmaschige Testreihen unter den Orchestermitgliedern machen dies möglich). Folglich begibt sich hier wirklich die von Strauss geforderte Hundertschaft auf Bergtour und bezwingt den Gipfel – auch den des orchestral Möglichen.

Freilich kommt Welser-Möst dabei abermals ohne Kraftmeierei und ohne allen opulenten Postkartenkitsch aus. Vielmehr zeigt er wiederum durch eine Reduktion der Dynamik und eine genaue Abmischung der einzelnen Orchesterfarben und -gruppen, wie raffiniert und stellenweise subtil diese Partitur instrumentiert ist. Und das selbst noch in den Lärmorgien des zentralen Abschnitts «Gewitter und Sturm, Abstieg», der mit selten gehörter Plastizität realisiert wird.

Präzise Wegleitung auf der gemeinsamen Bergtour: Franz Welser-Möst mit Rainer Honeck (rechts), dem Konzertmeister der Wiener Philharmoniker, bei der Aufführung der «Alpensinfonie».

Präzise Wegleitung auf der gemeinsamen Bergtour: Franz Welser-Möst mit Rainer Honeck (rechts), dem Konzertmeister der Wiener Philharmoniker, bei der Aufführung der «Alpensinfonie».

Marco Borrelli / Salzburger Festspiele

Noch eindrucksvoller wirkt indes Welser-Mösts Gespür für die stillen, oft entwaffnend schlichten Momente des Werks, etwa in der «Elegie» und dem «Ausklang». Im Einklang mit dem Komponisten lässt Welser-Möst an solchen Stellen gerade durch den Verzicht auf alle romantische Emphase die klassischen Vorbilder durchscheinen: Beethovens «Pastorale» natürlich, vor allem aber Mozart, das zentrale Vorbild des späteren, von allen «Elektra»-Exzessen geläuterten Strauss. Diese neoklassizistische Wende schlägt sich bis heute nur selten so klar im Stil von Aufführungen nieder, erst recht nicht bei der «Alpensinfonie» – hier aber hört man den helleren, im Kern leichteren und abgeklärten Tonfall. Ja, es wäre kaum vermessen zu sagen: Man hört einen neuen, womöglich gar den eigentlichen Strauss.

Mehr von Christian Wildhagen (wdh)

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