Musa Ngqungwana (ein Gefolterter, re.) in Nonos "Intolleranza".

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Während sich die Taliban gerade in der afghanischen Hauptstadt Kabul breitmachen, was wohl nicht zum Abebben der Flüchtlingsströme führen dürfte, informieren in der Felsenreitschule am Sonntag Videos im Telegrammstil über Fakten: Neben der Nennung der Hauptsponsoren der Festspiele steht auf der Wand, 167 Personen würden für etwa 1400 Zuschauer performen. Zusammen kämen die Künstler und Künstlerinnen aus 40 Ländern und würden 30 Sprachen sprechen. Manche mussten flüchten.

Auch wird in diesem Präludium zur Premiere von Intolleranza 1960 auf jene Migranten hingewiesen, die bisher versucht hätten, das Mittelmeer zu überqueren. Sie seien Diskriminierung, ethnischem Hass, sexuellem Missbrauch ausgesetzt, wären auch von Exekution, Terror und Folter geflohen. Viele von ihnen seien ertrunken, steht da, worauf es dunkel wird. Ordnungskräfte versuchen, einen Bühneneindringling unter Kontrolle zu bekommen.

Ein alle Opernkonventionen sprengendes Werk

Es ist dies ein programmatischer Beginn der Inszenierung von Jan Lauwers. Luigi Nonos "szenische Handlung", die sich einst anklagend mit Faschismus, Kolonialismus und ökonomisch unwürdigen Zuständen auseinandersetzte, wird von Lauwers als offenes Kunstwerk verstanden, das verlangt, als "Intolleranza 2021" umgesetzt zu werden.

Das alle Opernkonventionen sprengende Werk handelt von einem Migranten, der als Bergbauarbeiter die Rückkehr in seine Heimat ersehnt. Auf seinem Weg zurück erleidet er seine Passionsgeschichte zwischen Folter und Konzentrationslager – aber erfährt auch eine politische Erweckung: Aus dem Opfer wird ein Freiheitskämpfer.

Lauwers gibt diesem Individuum und jenen, die seinen Weg begleiten, szenischen Raum zum Atmen. Ist auch zentral wichtig: Es künden bei Nono schon die sehr hohen Stimmlagen von verzweifelter Dramatik. Sie wird von Sean Panikkar (Migrant) und besonders von Sarah Maria Sun (seine Gefährtin) grandios in den Dienst der Figurenemotion gestellt. Profundes gelingt auch Anna Maria Chiuri (eine Frau), Antonio Yang (ein Algerier) und Musa Ngqungwana (ein Gefolterter).

Kollektiv entfesselt

Trotz der "Einzelschicksale" ist an sich aber die Menschenmasse der Hauptdarsteller: Lauwers entwirft eine Polyfonie der kollektiv gebändigten Individuen. Die Sänger und Sängerinnen der ausgezeichneten Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor (Einstudierung: Huw Rhys James) mischen sich bis zur Ununterscheidbarkeit mit den Tänzern und Tänzerinnen (Needcompany, Bodhi Project, SEAD) zu einer dynamischen Skulptur. Die physische Präsenz des Kollektivs, dessen Gehetztheit, wird zudem filmisch vergrößert und gedoppelt, was eine Dynamisierung bedeutet.

Lauwers schwebt eine Diversität integrierende, multikulturelle Gesellschaft in Aufruhr vor. Bei der Folterszene werden in ständiger Wiederholung diverse Drangsalierungen bis zur Erschöpfung demonstriert, während einer "I can’t breathe" schreit wie einst George Floyd vor seinem Erstickungstod. Choreografien und Realitätszitate durchwirken hier einander in stilisierter Form, nicht allerdings, ohne auf die abstrakte Poesie dieser Musik zu reagieren. Sie beschwört symbolhaft den ersehnten Humanismus.

Hier arbeit Lauwers auch mit filmischer Irritation: In einer Sehnsuchtsszene, einem Traum vom Glück, liegt auf dem nackten Mutterbauch ein Baby, das sich immer wieder genüsslich saugend in eine Brustwarze verbeißt, bis Mutterkörper und Baby plötzlich blutverschmiert erscheinen. Es ist ein filmischer Moment der brutalen Kontemplation, in Rahmen einer rasenden Performance über Humankatastrophen.

Der Dichter wird zum Flüchtling

Unterbrechen wird sie ein blinder Dichter (Victor Afung Luwers). Im ersten Teil auf einem Podest zitternd, bekommt diese von Lauwers erfundene Figur ihren Monolog, der von den Massen ausgelacht wird. Erst als er das Wort "Wahrheit" ausspricht, wird er aggressiv ausgebuht. Die Geschichten der Menschen, deren Schicksale, das alles will niemand mehr hören, scheint Lauwers zu sagen – auch ihr nicht, die ihr da sitzt. Schließlich wird auch der Dichter zum Flüchtling. Er läuft im Kreis und mit ihm immer mehr Individuen, bis zur Erschöpfung drehen sie ihre Runden, bis die Flut kommt.

Am Ende steht der Chor im Halbkreis vor Leichen und singt Nonos Vertonung des Brecht-Gedichts An die Nachgeborenen. Der letzte Augenblick gehört der Vokalmusik, wie auch der Anfang, als der Chor vom Band kam. Er umzingelte und erfasst den Zuschauer sanft von allen Seiten. Nono haucht einem jedoch nicht nur ins Ohr, er springt einem auch mit beiden Beinen ins Gesicht.

Dabei ist Intolleranza 1960 mehr als nur ein zum Klingen gebrachter moralischer Zeigefinger. Das Werk ist eine mehrschichtige Form des engagierten Musiktheaters, die als innovatives Gesamtkunstwerk auch ästhetisch überzeugen will. Neben der Bläserformation und den Streichern, die im Orchestergraben ein bisschen in die Höhe gehoben wurden, sind da weitere Gruppen ganz bewusst im Raum verteilt. Zwölf Trommler prägen den linken Bühnenteil. Rechts wird das aufgespaltene Orchester u. a. durch Pauken, Harfe, Celesta vervollständigt.

Nur Applaus

Ingo Metzmacher und die famosen Wiener Philharmoniker geben der Musik Sinnlichkeit und dramatische Wucht. Kontraste werden stark betont, die Raumanordnung der Instrumente bewahrt die subtil verzahnte Musik aber vor einem breiigen Gesamteindruck, der zwischen zauberhafter Abstraktion und perkussiver Angriffigkeit pendelt.

Also: Wohl im Sinne Nonos hat Lauwers Aktualität, Engagement und utopische Poesie kunstvoll verquickt, ohne zu verharmlosen. Ebenso gilt aber für ihn: Engagierter Künstler und politischer Aktivist sind zweierlei. Das Publikum dankte es ihm mit ungetrübtem Applaus.(Ljubiša Tošić, 16.8.2021)