Salzburger Festspiele: In Nonos «Intolleranza» ist der Mensch dem Menschen ein Trauma. Das wirkt erschreckend gegenwärtig

Für die Salzburger Festspiele haben Ingo Metzmacher und Jan Lauwers ein Schlüsselwerk des modernen Musiktheaters neu interpretiert – mit verstörender Deutlichkeit.

Marco Frei, Salzburg
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Eine sozialpsychologische Charakterstudie der Masse Mensch: Sung-Im Her (Schauspiel und Solotanz) und Mitglieder des Ensembles in der Neuproduktion von Nonos «Intolleranza 1960».

Eine sozialpsychologische Charakterstudie der Masse Mensch: Sung-Im Her (Schauspiel und Solotanz) und Mitglieder des Ensembles in der Neuproduktion von Nonos «Intolleranza 1960».

Maarten Vanden Abeele / Salzburger Festspiele

Eine Frau beginnt zu lachen, erst verhalten, bald immer lauter. Ihr Lachen steckt an. Schon johlt und grölt die ganze Masse – ungezügelt, viehisch, völlig entfesselt. Die Stimmung kippt vollends ins Bedrohliche, wenn der blinde Dichter über die «Wahrheit» zu sprechen beginnt. Von Menschen berichtet er, die stumm ausharren: auf Booten und in Containern, in Autos, Lastwagen und Zügen. Sie werden weggespült, ersticken qualvoll oder kommen auf andere Weise um.

Diese stummen Geheimnisse, die Wahrheit, will die Masse nicht hören. Ein schlaksiger, junger Draufgänger schlendert zum blinden Dichter und misshandelt ihn. Der blinde Dichter, eine Art «Gottesnarr», wird totgeprügelt, aus dem Kollektiv heraus. Diese Szene ist ein Schlüssel zum Verständnis der Neuinszenierung von Luigi Nonos «Intolleranza 1960», die Jan Lauwers für die Salzburger Festspiele realisiert hat.

Der sehende Blinde

Lauwers hat sich einige Freiheiten genommen. Er hat die Figur des blinden Dichters ebenso zusätzlich eingeführt wie die «Massen-Lachszene». Sie setzt unmittelbar nach dem «Grossen Explosionsdonner» im zweiten Teil zwischen der ersten und der zweiten Szene ein: ein gewaltiger Ausschrei im Chor und Ausbruch im Orchester. Der blinde Dichter geistert bereits durch einige frühere Arbeiten des belgischen Regisseurs, hier aber besitzt er eine neue Dringlichkeit. Denn es geht um die Frage, mit welcher Haltung man dieser 1961 in Venedig uraufgeführten «Azione scenica» begegnet.

Nono macht es der Regie nicht gerade einfach. Seine «Intolleranza 1960» nimmt direkt Bezug auf die damalige Tagespolitik: auf den algerischen Unabhängigkeitskrieg genauso wie auf die antifaschistischen Massenproteste in Italien, auf eine Bergwerkskatastrophe und auf eine verheerende Flut in der Po-Ebene. Wie bringt man das auf die Bühne?

In der legendären Stuttgarter Produktion von 1992, auch auf Tonträger dokumentiert, wurde die vordergründige Aktualität auf eine abstrakte Ebene gehoben. Für den Schweizer Musikwissenschafter Jürg Stenzl avancierte die Produktion «zu einer Art Uraufführung». Der Nono-Forscher lobte seinerzeit ausdrücklich den «Mut zur Abstraktion vom Aktuellen» und zur «konkreten Bildfindung des Allgemeinen». Lauwers knüpft hier grundsätzlich an, schlägt jedoch einen anderen, eigenen Weg ein.

Einer Positionierung in der Gegenwart geht er nicht aus dem Weg, aber ohne allzu platte Bezüge auf die Tagespolitik, und zwar selbst dort, wo es den Anschein hat. So beziehen sich die Worte seines blinden Dichters zwar eindeutig auf die jüngsten Flüchtlingsdramen, und bereits vor Beginn der eigentlichen Aufführung werden Zahlen von im Mittelmeer Ertrunkenen oder die Gründe von Flucht und Vertreibung eingeblendet. Die Horde verroht lachender Menschen wiederum lässt sich als Sinnbild für die anonyme Masse begreifen, die sich im Internet und in «sozialen» Netzwerken rechtsfreie Räume erschliesst. Für sie ist die Wahrheit eine Lüge und die Lüge eine Wahrheit.

Alle diese Deutungen drängen sich fraglos auf, allerdings geht es Lauwers um mehr, um Grundsätzliches: Seine Inszenierung rückt das Kollektiv in den Fokus und entwirft eine sozialpsychologische Charakterstudie der Masse Mensch – mit schonungsloser Konsequenz, ja Brutalität. Der von Huw Rhys James meisterhaft einstudierte Wiener Staatsopernchor fungiert de facto als Protagonist. Verstärkt wird die szenische Wirkung durch überaus starke Choreografien von Lauwers und Paul Blackman, dargeboten von Mitgliedern der Salzburg Experimental Academy of Dance.

Bei Lauwers wird überdies der Mensch selbst nicht nur zum Thema, sondern auch zum Bühnenbild. Die Videosequenzen von Ken Hioco verdoppeln die Masse auf der Bühne, eine Art Metaebene. Was diese Metaebene aussagen möchte, offenbart sich in der berüchtigten Folterszene: Gefolterte werden zu Folterern und umgekehrt, die Grenzen zwischen Opfern und Tätern verschwimmen. Hier traumatisiert sich eine ganze Gesellschaft gleichsam gegenseitig, am Ende sind alle schuldig. Das ist harter Tobak, es wird aber auch deswegen zu einem fesselnden Grossereignis, weil Ingo Metzmacher und die Wiener Philharmoniker musikalisch einen ungeheuren Sog entfachen.

Klangwalze des Horrors

Sie wissen die unerschöpflichen Klangpotenziale der Felsenreitschule ganz zu nutzen, um aus der Urgewalt der Musik Nonos vielschichtige Raumklang-Wirkungen erwachsen zu lassen. Links von der Bühne sind zwölf Trommler positioniert, rechts Pauken, Harfe, Celesta, Marimba, Vibrafon, Glockenspiel und Röhrenglocken. Die Bläser und Streicher sitzen im hochgefahrenen Graben. Wut und Verzweiflung, nackte Angst und rohe Gewalt: Von allen Seiten scheint die Klangwalze des Horrors hereinzubrechen.

Gleichzeitig bleibt alles unter der Leitung Metzmachers klar und differenziert gestaltet. Davon profitiert nicht zuletzt der Gesang der Solisten. Mit Sean Panikkar in der Rolle des Emigranten und der schlicht überragenden Sängerdarstellerin Sarah Maria Sun als dessen Gefährtin agiert ein starkes Duo. Wie zudem Musa Ngqungwana dem Gefolterten seine Würde lässt, mit feinem Lyrismus, das ist von erschütternder Schönheit. Im Vergleich bleiben Anna Maria Chiuri als verbitterte Frau des Emigranten und der Algerier von Antonio Yang etwas farblos.

Bevor Victor Afung Lauwers als omnipräsenter Dichter seine Wahrheit ausspricht, steht er stumm auf einem Podest. Seine Beine wackeln unaufhörlich, und dieses Zucken setzt sich in der Menschenmasse fort. Es sind seine eigenen Geheimnisse, die er da verrät, auch er ist ein Traumatisierter. Im Gegensatz zur Masse Mensch aber empfindet man für ihn das, was sonst in keiner Sekunde aufkommt: Mitleid.

«Gedenkt unser mit Nachsicht», heisst es im Schlusschor nach Bertolt Brecht – «wenn es so weit sein wird, dass der Mensch dem Menschen ein Helfer ist.» Davon sind wir noch immer Lichtjahre entfernt. Das ist wohl die grausigste Wahrheit dieser fesselnden Salzburger Produktion.

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