Opern-Kritik: Ruhrtriennale – Bählamms Fest

Die Macht der Bilder

(Bochum, 15.8.2021) „Bählamms Fest“ von Olga Neuwirth und Elfriede Jelinek beeindruckt in der Bochumer Jahrhunderthalle musikalisch und mit surrealen Traumbildern.

© Volker Beushausen

Szenenbild aus „Bählamms Fest“

Szenenbild aus „Bählamms Fest“

Die Ruhrtriennale hat sich längst etabliert. Mit einer aller drei Jahre wechselnden Intendanz gibt es ein Kontinuum des künstlerisch Besonderen. Und des regional Ererbten. Was Gerard Mortier hier für die einstigen Kathedralen des Industriezeitalters etabliert hat, konfrontiert den Alltag in Bochum und Essen, in Duisburg oder Gladbeck zwar immer noch mit einem Hauch des ganz Anderen. Es hat aber doch sein Publikum, das den besonderen Charme dieser Art von experimentellen Kunstanstrengungen, jenseits der etablierten Strukturen, zu schätzen weiss. Ein Publikum, das im vergangen Jahr auch diese besondere Festspielfarbe (neben Bayreuth, Salzburg, Bregenz oder wo auch immer) schmerzlich vermisst hat.

Um ins Ruhrgebiet aufzubrechen, bedarf es einer Neugier auf das Außergewöhnliche. Repertoire wird anderswo gepflegt. Nachdem die Intendanz von Stephanie Carp – nicht ganz ohne politisches Gezerre um eine umstrittene Rednereinladung – pandemiebedingt in einem Ausweichen ins Internet endete, hat jetzt Barbara Frey für drei Jahre übernommen. Und sich selbst das Recht der ersten Nacht mit einer dunkel poetischen Inszenierung von Edgar Ellen Poes Novelle „Der Untergang des Hauses Usher“ vorbehalten. Die Aura der Maschinenhalle der Zeche Zweckel in Gladbeck war dabei die halbe Miete für eine nahezu authentische Schauerromantik.

Schräger Surrealismus und experimentierfreudige Musik

Für die erste große Musiktheaterpremiere konnte man auf die erprobte Anpassungsfähigkeit der Jahrhunderthalle in Bochum bauen. Für „Bählamms Fest“ hatten sich die Experimentierfreude der Komponistin Olga Neuwirth und die Vorliebe von Elfriede Jelineck für eine Sprachmusik des Abgründigen schon 1999 zu einer bei den Wiener Festwochen uraufgeführten Oper in 13 Bildern zusammengefunden. Frauenpower aus Österreich. Im Doppelpack. Mit viel Sinn fürs düster Schaurige, samt entsprechendem Witz. In Deutschland kam das Werk erstmals kurz darauf in Hamburg auf die Bühne des Deutschen Schauspielhauses. Wobei sowohl der schräge Surrealismus als auch die sinnlich experimentierfreudige Musik gut zu einem Festival passt.

© Volker Beushausen

Szenenbild aus „Bählamms Fest“

Szenenbild aus „Bählamms Fest“

Dem Libretto liegt das „Das Fest des Lamms“ (1940) von Leonora Carrington (1917 – 2011) zu Grunde. Die heute vergessene Autorin hatte für einige Jahre mit Max Ernst zusammengelebt. Dass der Surrealismus da zum Hausstand gehörte, spiegelt sich in der schrägen Geschichte der Familie Carnis wieder, mit der sie wohl auch einen Teil ihrer eigenen Biographie zu verarbeiten suchte. Diese schreckliche und kein bisschen nette Familie Carnis wird dominiert vom exemplarischen Schwiegermutterdrachen Margret. In dieser Rolle sitzt Hilary Summers wie eine Diva im Rollstuhl, lässt sich vom Diener Robert das Strickzeug reichen. Drangsaliert mit einer Mischung aus gesprochenen und gesungenen Passagen aber auch ihren Sohn Philip (Dietrich Henschel) und dessen junge Frau Theodora (koloratursicher: Katrien Baerts). Der jungen Frau bleibt der Rückzug ins Kinderzimmer und die Flucht in eine Affäre mit dem Wolfsmenschen Jeremy (dem Counter Andrew Watts).

Blick in den Abgrund

Aber auch Philips verschwundene erste Frau Elizabeth (Gloria Rehm) taucht mit Rachefuror wieder auf. Sie alle treffen in und um einem schlichten, auf einer Drehscheibe platzierten Haus zusammen, dessen eine Giebelwand sich einfach abklappen und wieder aufrichten lässt. Die gegenüber liegende Wand kann sowohl von innen als auch von außen durch raffinierte Videoprojektionen ein Eigenleben entfalten. Da doppeln sich die Menschen, da sieht man wie von aussen der Körpern eines kopflosen Lamms gegen die Scheibe prallt und mit einer Blutspur auf den Boden rutscht. Schaut man von außen auf diese Wand, wird sie zur Projektionsfläche für ein lauerndes Rudel Wölfe mit stechend leuchtenden Augen. Wenn die projizierte Glasscheibe von Steinen getroffen wird, dann blitzen nach und nach Felder auf, die an Störungen auf einem Computerbildschirm erinnern. Das ist wie der Einbruch einer anderen Zeitschiene. Ansonsten dominiert die starke atmosphärische Wirkung, die die in ihrer Kargheit dennoch opulente Heidelandschaft entfaltet. Ausstatterin Nina Wetzel hat die in die Jahrhunderthalle gepflanzt. Samt selbstleuchtendem Teich – mal mit, mal ohne Wasser.

© Volker Beushausen

Szenenbild aus „Bählamms Fest“

Szenenbild aus „Bählamms Fest“

Die Musiker des Ensemble Modern und ihr Dirigent Sylvain Cambreling sind sichtbar neben der Spielfläche postiert und entfalten angereichert durch reichlich, aber gut dosierte Live Electronic das lustvolle Klanguniversum Olga Neuwirths. Mit eigenwilligen Parladobegleitungen, geradezu filmtauglichen atmosphärischen Einfärbungen und beherztem Zugriff auf alles, was die Musikgeschichte bereithält. So wie das irische Regieduo Dead Centre (Ben Kidd und Bush Moukarzel) meist den Kontakt zum Heideboden hält und lediglich mit Versatzstücken das nachvollziehbar Alltägliche behauptet, so streben die Melange aus raumgreifendem Klang samt szenischem Instinkt und die Präsenz der Jahrhunderthalle in die surrealen Hinter- und Abgründe einer Geschichte, in der auch für die Überlebenden (wie Theodora) höchstens Überleben drin ist. Im musikalischen Ausblenden und Verstummen endet daher dieser Blick in den Abgrund.

Ruhrtriennale
Neuwirth: Bählamms Fest

 Sylvain Cambreling (Leitung), Dead Centre (Regie), Nina Wetzel (Bühne & Kostüme), Jack Phelan (Video), Patrick Fuchs (Licht), Katrien Baerts, Dietrich Henschel, Andrew Watts, Marcel Beekman, Gloria Rehm, Linsey Coppens, Graham F. Valentine, Lydia Kavina (Theremin Vox), José Miguel Fernandez (Live-Electronik Performance) Ensemble Modern, Solisten des Knabenchores der Chorakademie Dortmund

Jahrhunderthalle Bochum

Ruhrtriennale

10. August bis 23. September 2023

Im Jahr 2002 gegründet, findet die Ruhrtriennale jährlich im Ruhrgebiet an industriell geprägten Schauplätzen statt. Das internationale Kunstfestival verbindet Installationen, Ausstellungen, Tanz, Theater, Konzerte und Musiktheaterproduktionen. weiter

Termine

Donnerstag, 25.04.2024 19:30 Uhr Laeiszhalle Hamburg

Martha Argerich, Symphoniker Hamburg, Sylvain Cambreling

Boesmans: Chambres d’à côté, Ravel: Klavierkonzert G-Dur, Prokofjew: Suiten aus „Romeo und Julia“

Freitag, 26.04.2024 19:30 Uhr Volksbühne im großen Hirschgraben Frankfurt (Main)

Dierksen/Hommel/Kretzschmar: Der Struwwelpeter

Ensemble Modern, Sabine Fischmann & Michael Quast (Schauspiel)

Samstag, 27.04.2024 19:30 Uhr Volksbühne im großen Hirschgraben Frankfurt (Main)

Dierksen/Hommel/Kretzschmar: Der Struwwelpeter

Ensemble Modern, Sabine Fischmann & Michael Quast (Schauspiel)

Sonntag, 28.04.2024 17:00 Uhr Volksbühne im großen Hirschgraben Frankfurt (Main)

Dierksen/Hommel/Kretzschmar: Der Struwwelpeter

Ensemble Modern, Sabine Fischmann & Michael Quast (Schauspiel)

Sonntag, 05.05.2024 19:00 Uhr Laeiszhalle Hamburg

Pierre-Laurent Aimard, Symphoniker Hamburg, Sylvain Cambreling

Weber: Ouvertüre zu „Oberon“, Bartók: Klavierkonzert Nr. 2 G-Dur, Beethoven: Sinfonie Nr. 4 B-Dur op. 60

Dienstag, 07.05.2024 19:30 Uhr Oper Frankfurt

Ensemble Modern

Happy New Ears
Montag, 13.05.2024 18:00 Uhr Museum Judengasse Frankfurt (Main)

Schüler & Schülerinnen der Spurensuche-AG der Wöhlerschule, Ensemble …

Barak: AD MEA WE ESSRIM! (UA), Schulhoff: Bassnachtigall, In futurum aus den Fünf Pittoresken op. 31 & Die Wolkenpumpe – Ernste Gesänge nach Worten des Heiligen Geistes, Gilutz: walking man after Giacometti´s Walking Man (DEA)

Montag, 13.05.2024 20:00 Uhr Museum Judengasse Frankfurt (Main)

Schüler & Schülerinnen der Spurensuche-AG der Wöhlerschule, Ensemble …

Barak: AD MEA WE ESSRIM! (UA), Schulhoff: Bassnachtigall, In futurum aus den Fünf Pittoresken op. 31 & Die Wolkenpumpe – Ernste Gesänge nach Worten des Heiligen Geistes, Gilutz: walking man after Giacometti´s Walking Man (DEA)

Donnerstag, 16.05.2024 19:30 Uhr Laeiszhalle Hamburg

Symphoniker Hamburg, Sylvain Cambreling

Weill: Sinfonie Nr. 2, Mendelssohn: Sinfonie Nr. 3 a-Moll op. 56

Mittwoch, 22.05.2024 19:30 Uhr Haus der DEA Frankfurt (Main)

Thomas Mittler, Ensemble Modern

Widmann: Air & Quintett, Haddad: Le Contredésir

Rezensionen

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