Berlin. Als spritzige Comicoper hat Pinar Karabulut die Ödipus-Oper „Greek“ auf dem Parkdeck der Deutschen Oper inszeniert.

Auf dem Parkdeck der Deutschen Oper fühlt man sich an diesem Premierenabend kaum noch an die griechische „König Ödipus“-Tragödie von Sophokles erinnert. Obwohl die kunterbunten Figuren auf der Bühne durchaus etwas Mythologisches verkörpern. Aber man sieht ihnen fröhlich und staunend entgegen. Regisseurin Pinar Karabulut hat die Ödipus-Oper „Greek“ des britischen Komponisten Mark-Anthony Turnage in eine Art Comic-Schleudergang versetzt. Der Kampf zwischen dem jungen Eddy, ein moderner Ödipus, und dem Manager des Cafés, der am Ende sein Vater ist, hat den passenden Text dazu. „Schlag: Verletz! Knirsch! Schmerz! Stich! Stoß!“, droht Eddy. „Schmetter! Hass! Schlitz! Reiß! Entzwei!“, kontert der Manager. Beide stehen dabei tänzelnd meterweit auseinander. „Das war’s“, gibt der besiegte Manager am Boden liegend zu. Tot ist er aber in dieser spritzigen Open-Air-Inszenierung noch lange nicht.

Vier Sänger schlüpfen auf überwältigende Weise anderthalb Stunden lang in verschiedene Rollen der Oper, die 1988 bei der 1. Münchner Biennale für Neues Musiktheater ihre Uraufführung erlebte. Die Oper ist zweifellos ein gelungener Wurf, und sie ist very british, was nicht nur das Musikalische, sondern auch das Libretto betrifft. Der trockene britische Humor geistert in seiner Schwärze, Unverblümtheit und Absurdität allenthalben durch die Handlung. Die Witwe jammert ihrem einzigartigen Mann hinterher: „Wessen Kotze wisch’ ich ab vom Kissen, wenn er mir nach seiner Sauftour über’s ganze Gesicht reihert?“ Es gibt noch derbere Stellen in dieser Vor-MeToo-Oper.

Die Polizisten stampfen fröhlich hin und her

In Turnages Oper ist die Handlung ins proletarische Londoner East End der 1980er-Jahre verlegt. Der junge Eddy hadert mit seinem versoffenen, rassistischen Vater. Satt hat er das Geschwafel seiner Eltern, wonach ein Wahrsager auf dem Jahrmarkt vorausgesagt habe, er werde den Vater töten und mit seiner Mutter schlafen. Eddy landet in einem Café und gerät in Streit. Zu der nunmehr verwitweten, scharfen Kellnerin fühlt er sich am Ende des ersten Akts hingezogen. Und sie zu ihm. Dem sozialkritischen Aspekt, der die Margaret-Thatcher-Ära im Libretto mit einer Pestzeit vergleicht, weicht die Regisseurin in eine verschwommene Zeitlosigkeit aus. Als Eddy in den Polizeikrawall hineingerät, ist das ein fröhliches Hin-und-Her-Stampfen. Man fühlt sich insgesamt mehr an Asterix und Obelix als an knüppelnde Polizeigewalt und Klassenkampf erinnert.

Pinar Karabulut, Jahrgang 1987, hatte offenbar viel Spaß mit ihren durchweg amerikanischen Solisten bei den Proben. Auf der Bühne tobt sich jedenfalls ein eingeschworenes, großartiges Sängerteam aus. Alle vier waren oder sind Ensemblemitglieder der Deutschen Oper. In „Greek“ gibt es viel zu singen und zu sprechen. Die Personenregie ist raffiniert, und alle Darsteller spielen voller Leidenschaft mit. Die aus Mönchengladbach stammende Schauspielregisseurin, die auf dem Parkdeck in Berlin ihr erfolgreiches Operndebüt gab, kann ihren ganzen Witz vorführen.

Zu Beginn des zweiten Akts kommen Eddy und seine Frau – dass sie seine leibliche Mutter ist, wissen sie noch nicht – im Cabrio vorgefahren und stimmen ein inniges Liebesduett an. Der versoffene, irgendwie demente Dad geistert durch die Zuschauerreihen. Und als Eddy der Theben bedrohenden Sphinx hinterher rennt, taucht er hoch über der Bühne und später sein Kopf aus einem fernen Fenster des Opernhauses auf. Dean Murphy ist ein sportiver Eddy, der mit seinem Bariton ebenso auftrumpfen wie kuscheln vermag. Mezzosopranistin Irene Robert kann mitfühlen und verführen, Seth Carico weiß seinen stattlichen Bariton komödiantisch auszukosten. Sopranistin Heidi Stober hat sich als devote Mum zurückzunehmen.

Für das Rätsel der Sphinx hat Eddy seine eigene Erklärung

Ödipus muss das berühmte Rätsel der Männer-verschlingenden Sphinx lösen: Was geht morgens auf vier, nachmittags auf zwei und abends auf drei Beinen? Eddy tippt auf einen Mann, der am Morgen seines Lebens auf allen vieren krabbelt, in seiner Jugend auf zwei Beinen steht und abends, „wenn er für seine Frau einen Steifen hat, wächst ihm das dritte Bein“. Die Sphinx flieht entnervt. Dieser Eddy wird am Ende, Inzest hin oder her, nicht zerstörerisch Hand an sich legen wie es Sophokles vorschrieb. „Scheiß auf das!“, verkündet Eddy: „Ja, ich will in meine Mutter zurückkriechen, was ist falsch daran?“ Es ist besser als Bomben und Gewalt in der Gesellschaft. Mit dem Ödipus-Komplex à la Freud hat „Greek“ wenig im Sinn. Das kleine Turnage-Orchester spielte am Freitag eine kantige Mischung wie aus Strawinsky und Britten mit einem kräftigen Schuss Jazz. Am Pult überzeugte Yi-Chen Lin, die neue Kapellmeisterin der Deutsche Oper.