Lohengrins Schwäne laufen Amok, und Mephisto grinst dazu

Ein verrücktes Wochenende in Luzern gipfelt in der Schweizer Erstaufführung von Mauricio Kagels «Staatstheater»: Mit der Produktion gibt die neue Operndirektorin Lydia Steier ihren virtuosen Einstand. Die Aufführung ist ein wildes Fest der Phantasie.

Christian Wildhagen, Luzern
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Theater darf alles, sogar ein bisschen Blasphemie: Szene aus dem dritten Teil der Luzerner Aufführung von Kagels «Staatstheater» in der Franziskanerkirche.

Theater darf alles, sogar ein bisschen Blasphemie: Szene aus dem dritten Teil der Luzerner Aufführung von Kagels «Staatstheater» in der Franziskanerkirche.

Ingo Hoehn / Luzerner Theater

Nun ist also doch noch der Wahnsinn ausgebrochen. Er grassiert im sonst recht beschaulichen Luzern, und niemand kann sagen, wie es dazu kam. Für einmal sind es nicht die leidigen Inzidenzen, die da ausser Rand und Band geraten – der Anlass ist harmloser und obendrein viel unterhaltsamer. Denn zum Auftakt der letzten Veranstaltungswoche am Lucerne Festival hat dessen diesjähriges Sommermotto «Verrückt» offenbar richtig gefruchtet.

Das begann am Freitagabend in einer halbszenischen Aufführung von Händels Oper «Parthenope» mit dem Ensemble Les Arts Florissants unter William Christie. Die Handlung des Stücks ist «barock» im Wortsinne, und die Musik schillert derart prächtig, dass man über den Kuriositätenstatus des Werks unter den 42 Opern Händels nur den Kopf schütteln kann. Zumal Christie mit den herrlich frischen Stimmen seines Nachwuchs-Projekts «Jardin des Voix» reizvoll vor Ohren führt, wie viel erotische Spannung in dem zeittypischen Qui-pro-quo liegt: Geht es hier doch um nichts anderes als das heiss diskutierte Thema fluider Gender-Identitäten! Und wieder einmal zeigt sich: Die über 400 Jahre alte Kunstform Oper ging damit immer schon spielerischer und souveräner um als heutige Eiferer.

Glühen und leuchten

Weniger mit Geschlechterrollen als mit überkommenen Rollenbildern hatte das Festival-Debüt des Mozarteumorchesters im KKL zu tun. Am Pult stand an diesem Abend Mirga Gražinytė-Tyla, die dem Orchester aus ihrer Zeit am Salzburger Landestheater verbunden ist. Die litauische Dirigentin gilt spätestens seit ihrem charismatischen Auftritt am Luzerner «PrimaDonna»-Festival von 2016 als führende Vertreterin der nunmehr schon dritten (oder gar vierten) Generation talentierter Frauen, die mit Nachdruck ihren Platz an den immer noch von Männern dominierten Pulten einfordern. Verrückt ist daran gar nichts (mehr); nachdenklich stimmt hingegen der Umstand, dass mit Johanna Malangré und mit Lin Liao, die am Freitag in einem Boulez-Konzert der Academy reüssierte, nur noch zwei weitere Dirigentinnen am diesjährigen Festival auftreten.

Beim Konzert von Mirga Gražinytė-Tyla lernt man nun nicht etwa einen spezifisch «weiblichen Blick» auf die Musik kennen – der ist nämlich eine Marketing-Schimäre; stattdessen aber einen dezidiert individuellen Interpretationsansatz. Bei der «Frühlings»- und der C-Dur-Sinfonie von Robert Schumann erweist sich die Dirigentin als Feinzeichnerin, die mit ihrer flamboyanten Gesten- und Körpersprache nahezu jedes Detail zu modellieren sucht.

Wie früher bei Andris Nelsons haben nicht alle diese schwungvollen Bewegungen eine hörbare Auswirkung auf den Klang; auch bremst der Fokus auf die Einzelheiten noch zu sehr die Entwicklung grösserer Spannungsverläufe. Wo aber die Musik ins Fliessen kommt, besonders eindringlich im zwischen die beiden Schumann-Werke eingeschobenen Adagio aus Mieczysław Weinbergs 2. Sinfonie von 1946, da beginnt tatsächlich jede Wendung, jeder Vorhalt, jede Dissonanz zu glühen und zu leuchten.

Bruch mit allen Konventionen

Während sich die Verrücktheiten – übrigens auch die des hier kerngesund klingenden Schumann – bis anhin in den Grenzen des bürgerlichen Anstands hielten, drehte das Luzerner Theater am Sonntagnachmittag richtig auf (beziehungsweise durch). Im Rahmen des Festivals und zugleich als Startschuss zum Beginn der Intendanz von Ina Karr brachte die neue Operndirektorin Lydia Steier die szenische Schweizer Erstaufführung von Mauricio Kagels «Staatstheater» auf die Bühne. Seit der Uraufführung an der Hamburgischen Staatsoper, die 1971 unter Polizeischutz stattfinden musste, umweht dieses Schlüsselwerk des performativen und instrumentalen Theaters der Ruch eines Skandalstücks. Nicht ohne Grund: Es brach damals – und es bricht noch heute – mit allen Konventionen des Betriebs.

Es gibt keine nachvollziehbare Handlung, keine klaren Rollenzuschreibungen, nicht einmal einen festgelegten Ablauf. Vielmehr muss sich jede Neuproduktion zunächst eine Grundlage schaffen, indem sie ihren Werktext nach dem Baukastenprinzip aus neun möglichen Teilen in Kagels Partitur zusammensetzt. Diese wiederum bestehen aus Hunderten von Einzelaktionen, teilweise mit ausgeprägtem Performance- und Happening-Charakter, die Kagel in Worten und Zeichnungen minuziös beschrieben hat. Die meisten dieser Aktionen sind kaum eine Minute lang und tragen surreal-assoziative Titel wie «Möbius», «Nachwuchs», «Onanie» oder «Mundtrommel».

Die Szenen des ersten Teils von «Staatstheater» werden live aus drei Performance-Containern übertragen, die ¨über die Stadt Luzern verteilt sind. Hier die Szene «Mundtrommel».

Die Szenen des ersten Teils von «Staatstheater» werden live aus drei Performance-Containern übertragen, die ¨über die Stadt Luzern verteilt sind. Hier die Szene «Mundtrommel».

Ingo Hoehn / Luzerner Theater

Was kompliziert klingt, wirkt in der Praxis ungeheuer lebendig, wenn auch kaum mehr wirklich provokativ. Lydia Steier ironisiert zudem mit ihrer phantasievollen Inszenierung die ursprünglich erkennbar antibürgerliche Stossrichtung des Werks. Dessen Kritik entzündete sich seinerzeit am restaurativen Repertoire-Traditionalismus der hoch subventionierten (westdeutschen) Staats- und Stadttheaterbetriebe.

Die Sehnsucht des Publikums nach den immergleichen «schönen» Stücken ist noch heute eine Verlockung für viele Theater, zumal unter finanziellem Druck – und beileibe nicht nur in Deutschland. Steier weiss dies und führt uns die Absurdität eines sich bloss noch selbst reproduzierenden «Best of»-Spielplans als virtuos überdrehte Bilder-Show vor Augen, die freilich ihrerseits ungemein theaterwirksam ist.

Spiel nicht mit den Schwanenkindern – denn die sind ferngesteuert und alles andere als harmlos: Szene aus «Staatstheater».

Spiel nicht mit den Schwanenkindern – denn die sind ferngesteuert und alles andere als harmlos: Szene aus «Staatstheater».

Ingo Hoehn / Luzerner Theater

Die Regisseurin schafft sich für diese Parodie einen Fundus aus szenischen Motiven (darunter auch hier die Gender-Frage) und pointiert gezeichneten Figuren, die als Leitthemen und personifizierte Running Gags durch die Aufführung geistern. Da treten, unter anderem, auf: eine männliche Carmen, eine Muttermilch verspritzende Mater Gloriosa, ein ausgebrannter Hamlet-Darsteller und eine Lucia mit grossem Herz und noch grösseren Gesten, die sich weigert, mit Maske zu singen. Lohengrins rotäugige Schwanenkinder laufen Amok, Octavian hadert gleichermassen mit seiner Rose wie mit der Funktionalität seines Gemächts, und der allzu eloquente Dramaturg zerquatscht allen Zauber eines Pas de deux wieder einmal mit Wikipedia-Wissen über Theatergeschichte.

«Sein oder nicht . . . »: Hamlet hat genug von dem Spektakel und steigt aus. Szene aus dem zweiten Teil der Luzerner Aufführung von «Staatstheater».

«Sein oder nicht . . . »: Hamlet hat genug von dem Spektakel und steigt aus. Szene aus dem zweiten Teil der Luzerner Aufführung von «Staatstheater».

Ingo Hoehn / Luzerner Theater

Ein Heidenspass

Dem Dramaturgen sollte man allerdings gut zuhören. Das empfiehlt sich generell bei Dramaturgen und hier besonders, denn ebendiese Theatergeschichte von den Anfängen in den antiken Dionysien über die Mysterienspiele des Mittelalters bis zu heutigen Formen von «Impro»- und «Flashmob»-Theater nimmt im dritten Teil der Aufführung sehr handfest Gestalt an. Dazu begeben sich Publikum und Mitwirkende in einer skurrilen «Semana santa»-Prozession in die nahe gelegene Franziskanerkirche (und spätestens hierbei versteht man, warum das Luzerner Theater, anders als das Festival, streng auf die Einhaltung der 3G-Regel pocht).

Im Sakralbau angekommen, feiern alle Sparten des Theaters gemeinsam eine ziemlich weltliche Fiesta, die mehr und mehr zur Orgie ausufert. Auf dem Höhepunkt segnet die Himmelskönigin das abbruchreife Luzerner Theatergebäude mit einem «Deutschen Bühnenjahrbuch» von 1971, das aussieht wie eine Mao-Bibel. Und ein auffällig rotäugiger Mephisto, der allem Anschein nach Asyl in der Kirche gefunden hat, grinst und feixt dazu: Keine Frage, von Zeit zu Zeit sieht er den Kagel gern. Was für ein Heidenspass, was für ein herrlich verrückter Einstand!

Weitere Aufführungen von «Staatstheater»: 8. bis 11. und 16. bis 19. September, jeweils 19.30 Uhr, Luzerner Theater.

Mehr von Christian Wildhagen (wdh)

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