„Die tote Stadt“ von Korngold – jetzt auch live in der Oper Köln

Gabriel Feltz / Foto @ Marcel Urlaub

Stefan Vinke als Paul und Kristiane Kaiser als Marietta und Marie sind die Protagonisten eines spannenden Beziehungsdramas. Das Gürzenich-Orchester unter Gabriel Feltz in großer Besetzung glänzt als hochromantischer Klangkörper, Chor und Kinderchor haben einen Auftritt aus dem Off. Musikalisch und szenisch ist die Oper ein fesselndes komplexes Psychogramm auf mehreren Handlungsebenen mit zahlreichen Deutungsmöglichkeiten mit spätromantischer Musik im Stil von Richard Strauss und Giacomo Puccini. Die Umsetzung in Köln ist szenisch und musikalisch großartig und ermöglicht mehrere Deutungen. Die Inszenierung regt zum Nachdenken an. (Rezension der besuchten Vorstellung am 7. September 2021

 

100 Jahre nach der Kölner Uraufführung unter der Leitung von Otto Klemperer am 4. Dezember 1920 dirigierte der Dortmunder GMD Gabriel Feltz auf den Tag genau in der Inszenierung von Tatjana Gürbaca die Corona-taugliche Produktion im Kölner Staatenhaus als Stream. Das Opernmagazin hat berichtet (LINK).

Am 4. September 2021 eröffnete die Oper Köln die neue Spielzeit mit der Live-Premiere ausschließlich mit geimpften, genesenen und getesteten Zuschauer*innen, die auf ihren Plätzen ohne Maske sitzen durften. Es ist immer noch jede zweite Reihe ausgebaut. Das Live-Erlebnis ermöglicht einen ganz anderen Zugang zum Bühnengeschehen. Dass die Musik in voller Lautstärke eines großen hochromantischen Sinfonieorchesters, das rechts von der Bühne aufgestellt ist, erklingt, macht sie extrem packend. Gleiches gilt für die Chöre, die live aus dem Off kommen. Die in schwarz-weiß eingespielten Videosequenzen treten im Vergleich zum Stream eher in den Hintergrund mit dem Ergebnis, dass man ein ganz anderes Stück erlebt.

Oper Köln/Die tote Stadt/ Foto © Paul Leclaire

Die Inszenierung durch Tatjana Gürbaca, die bewusst mehrere Deutungen zulässt, wirkt live widersprüchlich, weil man der Musik und dem szenisch realisierten Plot viel mehr Glauben schenkt als den Video-Einblendungen. So wird der zweite und der Anfang des dritten Akts zu einem Traum, den Paul hat, in dem die Beziehung zu Marietta, die in einem Mord an Marietta/Marie gipfelt, durchgespielt wird. Wenn es aber nur ein Traum war, warum bringt er sich dann am Ende um? Es ist zwar nur eine Videosequenz in Schwarz-weiß, aber sie ist durch die Musik nicht legitimiert. Paul steht vor dem Aufbruch aus der „toten Stadt“ und kann –  könnte – Marie endlich hinter sich lassen. Paul ist real nicht zum Mörder geworden, denn Frank, Mordopfer im Traum, die Stimme der Vernunft, kann ihn dazu bewegen, sich von der toten Marie zu verabschieden und Brügge zu verlassen.

Brigitta, Pauls Haushälterin und Vertraute, gewinnt im 3. Akt wieder die Oberhand. Er wehrt Marietta ab, die wieder versucht ihn zu bezirzen und von seinem Totenkult abzubringen. Er wirft ihr vor, dass sie ihre Sexualität auslebt, während Marie eine Heilige gewesen sei – es tun sich Abgründe der Bigotterie auf! Dann will Marietta es wissen: es gibt einen handfesten Krach, in dessen Verlauf er sie mit Maries Haarzopf erwürgt. Das drückt aber nur die Musik aus, das Kaiserpanorama ist zugezogen.

„Jetzt gleicht sie ihr ganz!“ Der Zuschauer ist noch ganz schockiert von der Bluttat, da stellt sich heraus, es war alles nur ein Traum! Deshalb wird auch die Stimme der Frau, die am Vorabend bei ihm ihren Schirm vergessen hat, eigeblendet, ohne dass man sie sieht. Aber warum ist Paul blutbefleckt? Es liegt zwar eine Leiche am Boden, aber ist das Marietta? Marietta war ein Trugbild, Marie ist tot, und der Aufforderung seines Freundes Frank, die tote Stadt zu verlassen, wird er vielleicht nachkommen. Die Musik lässt das Ende offen, Paul könnte tatsächlich den „Tempel der Erinnerung“ in Brügge hinter sich lassen. Eine verstörende Video-Sequenz zeigt, wie Paul sich umbringt. Hier hätte die Musik eine versöhnlichere Lösung nahegelegt.

Oper Köln/DIE TOTE STADT/Stefan Vinke/Foto @ Paul Leclaire

Das Staatenhaus ist eine große Messehalle mit aufsteigenden Stuhlreihen. Die Bühne von Stefan Heyne ist eine Riesenfläche, auf der in der Mitte eine einen Meter hohe Drehbühne aufgestellt ist, deren Aufbau einem Kaiserpanorama gleicht, aber auch einer Bar im Stil Edward Hoppers, an der ein paar isolierte Gäste auf Hockern sitzen. Das Kaiserpanorama kann als Vorhang geöffnet werden, innen ist das Seelenleben Pauls verortet.

Die Psychoanalyse, auch die Traumdeutung, spielt in den Opern der Zeit eine große Rolle. Wie Korngold hier Handlungsebenen und Identitäten vermischt – wo ist die Person noch real, wo ist sie nur eine Projektion? – und  dem Zuschauer die Männerphantasien von Verführung und Promiskuität, von Dominanz und Unterwerfung bietet, den Zuschauerinnen die weiblichen Identifikationsfiguren Brigitta oder Marietta, den Bigotten das christliche Brimborium und allen die opulente Nebenhandlung mit den Künstlerinnen und Künstlern vom Theater, zeugt von Korngolds früher Meisterschaft. Die Oper traf 1920 den Nerv der Zeit und wurde bis 1929 weltweit sehr viel gespielt.

Tatjana Gürbaca hat anscheinend ihre Inszenierung von 2020 an die beiden neuen Protagonisten angepasst, aber die Personenführung weitgehend beibehalten. Einige Anspielungen an sadomasochistische Praktiken wurden weggelassen. Die Vielschichtigkeit der Handlungsebenen wird noch dadurch erhöht, dass Paul die letzten Worte Mariettas/Maries aus dem Off mit den Lippen mitspricht. Aufgrund der vielen Wendungen und Brüche liegt auch die Deutung nahe, dass Marietta real ist – wie in der Romanvorlage – und Paul sich wegen des Totschlags an Marietta am Schluss selbst richtet, wie Gürbaca das mit der Video-Sequenz am Schluss nahelegt.

Gabriel Feltz, seit 2013 Generalmusikdirektor in Dortmund und Experte für die Musik des frühen 20. Jahrhunderts leitet die Premiere dieser spätromantischen Oper mit dem Gürzenich-Orchester mit großem Feingefühl. Das Orchester glänzt und liefert einen opulenten Klangteppich. Es wird daher durchgehend sehr laut gesungen. Bei den Orchestervorspielen entfacht Feltz die volle Kraft des groß besetzten Orchesters. Man merkt, dass der 22-jährige Korngold die Instrumentierung nicht nur von Richard Strauss, sondern auch von Giacomo Puccini abgeschaut hat. Dabei ist die Oper in weiten Phasen ein fast rezitativischer Sprechgesang, bei dem die liedhaften Arien sehr sensibel begleitet werden.

Der von Rustam Samedov einstudierte Chor der Kölner Oper hat diesmal nur eine kleine, aber gewaltig auftrumpfende Szene. Die Chorsänger*innen sind einfach nur mit Abstand links von der Bühne und hinter den Zuschauersitzen aufgestellt, können also nicht groß agieren. Knaben und Mädchen des Kölner Domchors ergänzen die Chorszene typgerecht.

Oper Köln/DIE TOTE STADT/Stefan Vinke/Foto @ Paul Leclaire

Stefan Vinke geht die Rolle des Paul als Heldentenor an, der er ist. Der Siegfried des letzten Bayreuther „Rings“ beeindruckt auf der ganzen Linie durch Kraft und Fülle der Stimme und durch eine enorme Bühnenpräsenz. Seine Partie ist musikalisch, aber auch vom schieren Umfang und von der schauspielerischen Seite wohl die anspruchsvollste Partie für einen Tenor, die es gibt. Er konnte den satten Klangteppich des Orchesters mühelos überstrahlen. Ihm glaubte man die Wut auf Marietta, die in der Erdrosselung mit dem Haarzopf gipfelte. „Lebe wohl mein treues Lieb, Leben trennt vom Tod /Grausam Machtgebot / Harre mein in lichten Höhn / hier gibt es kein Auferstehn“, ist sein Fazit der Trauerarbeit, die er als Paul leisten musste.

Kristina Kaiser tanzt, kokettiert, begehrt, dominiert, zickt rum, und sie bewältigt die lange Partie in sehr hoher Tessitura mit großer Umsicht. Ihr Rollendebut ist gelungen. Mariettas Lied: „Glück, das mir verblieb“ das sich zum Duett mit dazwischen gestellten Rezitativen entwickelt, ist der große Hit dieser Oper. Dass Paul es am Ende noch einmal zitiert sorgt dafür, dass man es nie wieder vergisst.

Kammersängerin Dalia Schaechter als Pauls bigotte Haushälterin Brigitta liefert auch schauspielerisch eine beeindruckende Charakterstudie. Sie ist Mariettas Gegenspielerin und erinnert an Mrs. Danvers, die Haushälterin aus Hitchcocks „Rebecca“, und in dieser Eigenschaft kontrolliert sie Pauls Leben.

Die Stimme der Vernunft und alter Ego Pauls verkörpert Wolfgang Stefan Schwaiger als Frank und Pierrot mit seinem noblen und ausdrucksstarken Bariton. Sein Walzerlied  „Mein Sehnen, mein Wähnen“, das er als Pierrot singt, ist der zweite Hit der Oper. Er riskierte auch leise Töne und lieferte eine fesselnde Darstellung des Pierrots und des Freundes Frank.

Die Rollen der Tänzerinnen (Regina Richter und Anna Malesza Kutny*), des Regisseurs (John Heuzenroeder) und des Grafen (Dustin Drosdziok*) sind aus dem Ensemble bzw. aus dem Internationalen Opernstudio* mehr als opulent besetzt.

Bei dieser Oper, die von 1933 bis 1945 verboten war, ist die Antwort klar: sie war zu Unrecht vergessen und hat immer noch das Zeug zu einem Publikumsrenner.

 

  • Rezension von Ursula Hartlapp-Lindemeer / Red. DAS OPERNMAGAZIN
  • Oper Köln / Stückeseite
  • Titelfoto: Oper Köln/DIE TOTE STADT/Stefan Vinke/Foto @ Paul Leclaire
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