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Klassik Amerika nach Corona

Momentum der Moral

Freier Korrespondent
Große Oper: „Fire Shut Up in My Bones“ von Terence Blanchard an der New Yorker Met Große Oper: „Fire Shut Up in My Bones“ von Terence Blanchard an der New Yorker Met
Große Oper: „Fire Shut Up in My Bones“ von Terence Blanchard an der New Yorker Met
Quelle: dpa
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Die Metropolitan Opera in New York spielt wieder. Zur Wiedereröffnung singt das Publikum die Nationalhymne als Triumph über die Pandemie und den Trumpismus. Auch das Premierenstück ist ein Fest der neuen Normalität.

Der wundersamste Moment kam, noch ehe ein Ton erklungen war, noch ehe eine Sängerin den Mund aufgemacht hatte: Er kam in der Dunkelheit, als endlich alle in der Metropolitan Opera in Manhattan auf ihren Plätzen saßen. Mit Masken über Mund und Nase, versteht sich. Plötzlich brach — wie aus dem Nichts — ein Beifall los, wie ihn dieses Haus noch nie gehört hat. Ekstatisch und ein bisschen meschugge.

Wir sind wieder hier, hieß dieser Beifall. Genauer gesagt: Wir sind noch hier! Nach mehr als 50.000 Seuchenopfern. Nach dem schrecklichen März und April des Jahres 2020, als New York zur Covid-Hauptstadt der Welt wurde. Nach all den Kühlwagen voller Leichen. Nach 18 Monaten der Totenstille. Dann legte, als der Applaus verklungen war, das Orchester unter der schwungvollen Leitung seines neuen Dirigenten Yannick Nézet-Séguin los: die Nationalhymne.

Richtig, es war ja die Eröffnungsnacht der neuen Saison — da wird in der Metropolitan Opera traditionsgemäß die Hymne gespielt. Alle sprangen auf die Beine, viele sangen unter der Maske mit. Links hinter dem Berichterstatter stand ein Mann mit einem herrlichen Tenor. Als er zu der Stelle kam, wo es heißt, dass nach einer furchtbaren Nacht die Flagge noch wehte — unsere Flagge, das Sternenbanner —, da war es ein bisschen unmöglich, nicht ergriffen zu sein.

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Ein paar Tage zuvor war es auf Staten Island zu einem Zwischenfall der ekelhaften Sorte gekommen. Da brach ein Rudel Trump-Anhänger in einen Food-Court ein — naturgemäß unmaskiert und ohne Impfnachweise —, schwenkte amerikanische Flaggen, brüllte „USA! USA!“ Und „Fuck Biden!“ Aber Manhattan ist nicht Staten Island, hier gab es keine Zwischenfälle.

Nette junge Menschen kontrollierten vor den Eingängen Impfkarten und Führerscheine. (Covid-Schnelltests sind in Amerika immer noch sehr teuer, werden also nie eingesetzt.) Niemand beschwerte sich, die Atmosphäre blieb freundlich-gespannt. Und so erlebte die Metropolitan Opera drei Premieren auf einmal: die erste Aufführung unter Pandemiebedingungen, die erste Aufführung der Spielzeit 2021/22 und die erste Aufführung einer Oper, die ein schwarzer Amerikaner komponiert hat.

Terence Blanchard (l.) und sein Co-Regisseur James Robinson in einer Probenpause zur Oper „Fire Shut Up in My Bones“
Terence Blanchard (l.) und sein Co-Regisseur James Robinson in einer Probenpause zur Oper „Fire Shut Up in My Bones“
Quelle: dpa

Terence Blanchard heißt der Mann; er hat schon viele Filmmusiken komponiert und ist eigentlich Jazztrompeter. Das hört man seiner Musik zum Glück an: Sie klingt nach Swing, in traurigen Momenten nach verlorenen Solonummern, in fröhlicheren Momenten könnte man nach ihr tanzen. Blanchards Oper heißt „Fire Shut Up in My Bones“ — ein Bibelzitat: „Da ward es in meinem Herzen wie brennendes Feuer“ (Jeremia 20,9).

Die Oper, deren Libretto von Kasi Lemmons stammt, basiert auf einem autobiografischen Buch von Charles M. Blow, der beschreibt, wie er bitterarm in Louisiana als zarter schwarzer Junge aufwuchs, der, als er sieben Jahre alt war, von einem Cousin sexuell missbraucht wurde. Am Anfang sehen wir Charles (Will Liverman, Bariton) als erwachsenen Mann auf der Bühne. Er sitzt vor einer Art Riesenkasten, hält einen Revolver in der Hand und will schießen. Neben ihm das Schicksal in Gestalt von Angel Blue (Sopran); das Schicksal redet — nein, singt — ihm ein, er habe gar keine andere Wahl. Kugeln, Blut, Rache!

Italienische Oper in der Sprache des Jazz

Dann kommt, würde man in einem Film sagen, die Rückblende: Der junge Charles (Walter Russell III) mit seiner Kinderstimme singt im Duett mit seinem älteren Selbst, und so erfahren wir, warum der Mensch da auf der Bühne sich rächen will.

Terence Blanchards Musik grenzt nicht nur ans Melodramatische, sie überschreitet diese Grenze häufig ohne Scheu. Das könnte kitschig sein, wenn Blanchard seine Musik nicht immer wieder in zerklüftetes Gelände schicken würde: Lyrische Phrasen geraten ins Stottern, Arien, die nach italienischer Oper klingen — nur eben quasi in die Sprache des Jazz übersetzt — werden von wildem Stakkato abgelöst.

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In einer Szene lässt Charles sich taufen, weil er hofft, dass der Christengott ihm hilft in seiner Not — da werden die Sänger im Hintergrund zum Gospelchor. An einer anderen Stelle sitzt er in einem verwunschenen Haus, in dem (so heißt es) die Geister ertrunkener Kinder spuken; da wird die Musik zum nachtdunklen Blues. In Charles M. Blows Buch wird der Protagonist von Phantomen heimgesucht; in der Oper wird dies dadurch dargestellt, dass eine Frauenfigur gleich zwei mythische Gestalten verkörpert: das Schicksal und die Einsamkeit. Und dieselbe Frau (also Angel Blue) ist dann auch noch Charles’ erste Freundin, die ihn prompt verlässt, als er ihr von seinem sexuellen Missbrauch erzählt.

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Aber da sind wir schon beinahe am Schluss der Oper angelangt; davor kommen ein paar bunte Familienszenen. In ihnen wird der erwachsene Charles für den jungen Charles zu einer Art unsichtbarem Bruder, der ihm beim Größerwerden zuschaut. Es gibt eine Übermama namens Billie (Latonia Moore, Sopran). Und es gibt einen völlig hoffnungslosen Vater namens Spinner (Chauncey Packer, Tenor), der herumhurt — die einzige komische Rolle in dieser Oper.

Der Übeltäter — der Cousin, der den kleinen Jungen vergewaltigt — heißt Chester. Er wird mit sattem Bariton von Chris Kenney gesungen und ist nicht einen Deut weniger teuflisch als die anderen bekannten Ungeheuer der Opernwelt: Jago in Verdis „Otello“ oder Pizarro in Beethovens „Fidelio“. Dass die Vergewaltigung auf der Bühne nicht gespielt, sondern ausgespart wird, macht sie umso verstörender.

Nach der Pause verwandelte sich die Metropolitan Opera ganz unvermutet in den Broadway. Das lag daran, dass Charles nun endlich aufs College kommt und sich in eine schwarze Studentenverbindung, eine fraternity, aufnehmen lässt. Die Mitglieder dieser Verbindung — alles Männer, versteht sich — tanzten mit roten Jacketts und Spazierstöcken eine rasante Steppnummer; dafür gab es in New York spontanen Szenenapplaus.

Biedermeier gegen das Böse

So weit, so harmlos. Aber auf die Steppnummer folgt ein rhythmischer Sprechchor mit viel Fingerschnippen, der eine aggressive Kante hat. Warum das so ist, wird schnell klar: Charles muss sich einem Demütigungsritual (hazing) unterziehen, wie es an vielen Studentenverbindungen, auch schwarzen, an amerikanischen Unis üblich ist. Charles besteht das Ritual mit Bravour, er lässt sich ohne Gegenwehr schlagen und bittet laut um mehr. In Demütigungen ist er trainiert.

Allen Moyer hat für diese Oper ein einfaches, aber effektvolles Bühnenbild entworfen. Riesige Vierecke stellen mal das Elternhaus von Charles in Louisiana, mal die Kirche, in der er sich taufen lässt, mal seine Bude im Studentenwohnheim dar; Projektionen von Wäldern und Stadtlandschaften besorgen den Rest. In der Vergewaltigungsszene wird im Hintergrund das Fotogesicht eines schwarzen Jungen auf eine große Leinwand geworfen. Seine dunklen, unschuldigen Augen lassen das Entsetzliche, was da angedeutet wird, noch unerträglicher erscheinen.

Am Ende sitzt Charles wieder vor dem Riesenkasten, und wieder hält er den Revolver in der Hand. Seine Mama hat ihn ihm einst gegeben, für alle Fälle. Jetzt verstehen wir, warum er schießen will und auf wen. „Someone musst die“, singt Charles. „And maybe the part I despise will die with you.“ Jemand muss sterben, und vielleicht wird der Teil von mir, den ich verachte, mit dir sterben.

Die Erweckung Amerikas: „Fire Shut Up in My Bones“ von Terence Blanchard
Die Erweckung Amerikas: „Fire Shut Up in My Bones“ von Terence Blanchard
Quelle: dpa
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„Es ist dein Schicksal”, singt die weißgewandete Frau neben ihm. Eigentlich pflegen Opern tragisch zu enden, aber diese hier ist eine Ausnahme. Am Ende fällt kein Schuss. Am Ende steht die vielleicht etwas biedere Moral, dass der Weg zur Heilung über die psychische Verarbeitung des Erlittenen führt. Allerdings hat Amerika im Moment vielleicht nichts nötiger als eben diese biedere Moral.

Eigentlich klatschen Amerikaner am Ende einer Aufführung nur kurz und suchen sich dann ein Taxi auf dem Broadway; elend lange Beifallorgien, wie sie in Europa üblich sind, werden hier nicht veranstaltet. Aber nach dieser Aufführung war es anders. Das Publikum stand und klatschte und pfiff und johlte. Die Begeisterung war beinahe sichtbar, eine statisch aufgeladene Wolke aus positiver Energie, die blaue Blitze schleuderte.

Draußen auf der Straße las der Berichterstatter dann auf seinem Smartphone, dass die Republikaner im Kongress allen Ernstes den amerikanischen Staatsbankrott riskieren, um der Regierung Biden ein Bein zu stellen. Aber nach diesem Abend war das beinahe nicht mehr schlimm.

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