Der neue Intendant in Kassel heißt Florian Lutz. In Halle hat er sein Theater der Zukunft erprobt und damit zwar nicht das Publikum, aber die Politik vor Ort überfordert. Jetzt ist er nicht nur für die Oper zuständig, sondern für alle Sparten. Außerdem wird er wohl auch den Umzug des Hauses in ein Provisorium bewältigen müssen, denn dass der Bau überholt werden muss, steht schon fest. Da hat es etwas von einem (Vor-)Zeichen, dass Baugerüste schon bei seiner ersten eigenen Inszenierung eine tragende Rolle spielen. Dass sein Hausszenograf Sebastian Hannak ihm eine Raumbühne (das „Pandaemonium“) daraus gezaubert hat, ist aber vor allem ein künstlerisches Statement zur Öffnung der Oper in Richtung Publikum. Ein zeitbedingt willkommener Nebeneffekt ist die den Corona-Restriktionen abgerungene Zuschauerzahl von ca. 630. Die hygienesichere Aufteilung der Zuschauer zwischen Saal und den auf Bühne und Seitenbühnen errichteten Rängen erlaubt weit mehr Opernfreunden als an anderen vergleichbaren Häusern die Rückkehr aus der erzwungenen langen Abstinenz. Es geht aber vor allem um das Aufbrechen der vierten Wand, die größere Nähe zu Musik und Akteuren und damit auch zur andauernden Brisanz der Geschichte des von allen Seiten geschundenen Wozzeck (Filippo Bettoschi), der sich am Ende nicht anders zu helfen weiß, als seine Marie (Margrethe Fredheim) umzubringen.

Das macht er in der unmittelbar von unserer Gegenwart aus erfolgenden Neubefragung in Kassel zwar nur in Gedanken, das heißt für uns im Video. In der Realität (des Stückes) bleibt er gleichwohl in seinem tristen Verpacker-Job gefangen. Also im Griff der Firma, die den Superdrink Biofuel herstellt. Den bringt sie mit einer Werbekampagne mit dem Gesicht und sexy Körper des Tambourmajors (Frederick Ballentine) sowie mit einer Art Parlaments-Event unter die Leute. In dieser Rahmenhandlung führt der Hauptmann (Arnold Bezuyen) in Unterbrechungen der Musik die Zuschauer durch ein fiktives Gesetzgebungsverfahren, bei dem das Publikum über Gesetze zu Gesundheit, Kontakten und Sicherheit abstimmen kann. Der Effekt dieses Brückenschlages von den Themen Bergs und Büchners beim Blick in den Abgrund Mensch zum beklemmenden Blick in unsere von einem vorsorglichen Staat (respektive Konzern) durchregulierte Zukunft ist frappierend.

So ähnlich wie das außergewöhnliche Klangerlebnis für die Zuschauer, die in den Raumbühnenplätzen über dem fabelhaft unter seinem GMD Francesco Angelico aufspielenden Orchester platziert sind. Den Überblick zwischen dem Versandlager auf der einen, der Praxis des Doktors auf der anderen Seitenbühne, Maries Behausung im Hintergrund und dem Wirtshaus auf der Vorderbühne wird durch live produzierte und auf Großbildschirme übertragene Bilder gewährleistet. Wie im wahren Leben gibt’s einen Teil der Wahrheit immer nur aus zweiter Hand – packend radikales Gegenwartstheater in Kassel bis auf Weiteres aber aus erster.

Dr. Joachim Lange

„Wozzeck“ (1925) // Oper von Alban Berg

Infos und Termine auf der Website des Theaters