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Oper-Kritik: Semperoper Dresden – Norma

Belcanto aus dem Regie-Kühlschrank

(2.10.2021) Peter Konwitschny zeigt auch bei Bellini mit dialektischem Nachdruck allerhand menschliche Desaster, er erweist sich dabei indes immun gegen das sinnliche Fluidum des italienischen Repertoires.

vonRoland H. Dippel,

Woher kennt man nur diese zitronengelben Zopfmuster der gewaltbereiten Gallierinnen und Gallier? Auch die Riesensichel der zum Hit „Casta diva“ im Fallschirmkorb herabschwebenden Chefdruidin hat man schon mal gesehen. Aber das sind schon fast alle Asterix-Assoziationen in der Dresdner Neuproduktion von Vincenzo Bellinis und Felice Romanis „Norma“ – mit Ausnahme einer konzertanten Aufführung 2006 der ersten seit über hundert Jahren. Das beliebte Belcanto-Juwel mit der enormen Fallhöhe spielt zur gleichen Zeit wie René Goscinnys und Albert Uderzos Römer-Bashing in dem „kleinen, uns wohlbekannten gallischen Dorf“. Auf der Bühne dominiert in Normas Souterrain-Wohnzelle, wo sie die in sündiger Lust mit dem römischen Stammesfeind gezeugten Kinder versteckt, ungemütliches Hinkelstein-Grau. Das Publikum lauscht von ungefähr einem Drittel der verfügbaren Plätze, draußen tobt das Dresdner Herbstfest.

Großraumbüro und latentes Asterix-Feeling

Johannes Leiacker schuf drei Ambientes für die tragische Oper aus dem Jahr 1831: Vor der Pause baute er die symmetrische Baumaufstellung für einen Hain mit geschlossenem Blätterdach und phallisch abstehenden Aststümpfen, danach besagte Wohnhöhle der Chefdruidin und Sonderbeauftragten für Kriegshetze. Im zweiten Akt spitzt sich der Konflikt zwischen dem von Bellini mit toxischen Macho-Tönen versehenen Römer Pollione, seiner inzwischen etwas reiferen Langzeit-Geliebten Norma und Adalgisa, dem zölibatären Jungpriesterinnen-Frischfleisch, zu. In weißer Büro-Landschaft haben alle Smartphone und Laptop. Nur die Chefin Norma zeigt Bewusstsein für Nachhaltigkeit – ihr PC mit dem schwarz-orangeflimmernden Monitor ist Steinzeit. Dafür muss sie nach dem wunderbaren Finale-Kantabile „Qual cor tradisti“ aber nicht auf den Scheiterhaufen. Ist das noch Utopie oder schon subtile Dystopie?

Szenenbild aus „Norma“
Szenenbild aus „Norma“

Norma räumt den Schreibtisch, knallt ihrem vormodernen Papa, dem gallischen Priesterfürst Oroveso, die Säuglinge auf die Knie und haut mit Adalgisa, ihrer neuen Freundin und vormaligen erotischen Konkurrentin, ab. 80 Minuten früher gab es das ultimative Regie-Filetstück: Peter Konwitschny wäre, wenn er nur wollte, ein Meister des Boulevardtheaters, so wie die drei erotisch Verstrickten in ihrer Verwirrung der Gefühle Kofferinhalte verstreuen und hier alle Töne des oft gekürzten Seelenmülls herausschleudern. Noch immer trägt die Quoten-Druidin dunkelrot wie Miraculix bei der Mistelernte. Volksmassen tummeln sich in Hain und Büro wie im Comic die Wildschweine. So viele erdfarbenen bis schwarzen Kostüme sind kein Zufall.

Orchestrale Enttarnungen

Dergestalt ist die Premiere an der Semperoper Dresden ein Meisterwerk von Konzept-Lüge und deren Enttarnung. Letztere geschieht vor allem durch die phänomenale Staatskapelle und ihren früheren Konzertmeister Gaetano d’Espinosa. Es bräuchte keinen holzhammerartig erhellten Zuschauerraum, um auf die Traumkonstellation des Orchesters mit Bellini zu verweisen. Diese ist mindestens so ideal wie die mit Hausgott Richard Strauss. Schon die Ouvertüre gerät zum Fest, der Chor singt trotz szenischer Champagnerlaunen und präseniler Wehrsportübungen famos, eindringlich, hymnisch. D’Espinosa und Chordirektor André Kellinghaus verteilen eine musikalische Wonne nach der anderen. Der musikalische Rausch erfährt wegen ausbleibender emotionaler Verdichtung aber leider keine Steigerung, die erwarteten Emotionskitzel werden weniger und am Ende der Premiere ist es musikalisch wie szenisch bedeutend kühler.

Gebremste Sänger

Das gilt ähnlich für die insgesamt guten Solisten: Alexandros Stavrakakis ist als Oroveso ein Looser, weil man ihm die Konwitschny offenbar beim Sog zum Ende störende Paradenummer, den Guerra-Chor, wegschnitt. Bei Dmytro Popov gerät das Porträt des bösen Römers Pollione zwischen Visionen von der großen Duce-Karriere und Weichei-Wirklichkeit derart plastisch, dass man die schöne Gesangsleistung in der unbequemen Tenor-Partie kaum wahrnimmt. Natürlich will jede Spinto-Sängerin eine phantastische Norma sein – und Yolanda Auyanet brachte dafür fast alle Voraussetzungen mit. Sie legt es manchmal darauf an, dass „die Regie nicht zum Nachteil des Gesangs werden darf“ – wie sie im Podcast zur Premiere sagt. Trotzdem forderte Konwitschny sie mit Spielvorgaben derart, dass Yolanda Auyanet zwar alle Töne singt, die Läuterung der enttäuschten Rächerin und Fast-Kindermörderin zur schönen Seele unterbelichtet bleiben musste. Konwitschny hat in ihr also doch ein williges Bühnenwerkzeug. So ist wie so oft die Sängerin der Adalgisa in der Goldmedaillen-Position. Das Ensemblemitglied Stepanka Pucalkova hat glänzende Anlagen. Nur sie darf das Spektrum ihres Parts voll ausleben, ohne sich in der Balance von Stimme und Spiel zu verbiegen. Der Schlussapplaus begann nach einem unversöhnlichen Buh distinguiert und steigerte sich.

Szenenbild aus „Norma“
Szenenbild aus „Norma“

Die emotionale Starre verleitet zur Vision: „Mehr Emotionen wagen“

Es ist unglaubhaft, wenn Altmeister Konwitschny seine während der Vorbereitung wachsende Liebe zu Bellinis „Norma“ beteuert, zwar wie immer mit dialektischem Nachdruck menschliche Desaster zeigt und dabei trotzdem kaum das reduzierte emotionale Engagement kaschiert. Immer deutlicher ist auch Konwitschnys fachliche Genugtuung beim Ausstellen menschlicher Simplizität und Banalität. Das humanistische Flöten und Säuseln gerät ihm zunehmend abhanden. Seine unnachahmlichen Spielleiter-Qualitäten werden – wie bei „Thais“ im Theater an der Wien oder in Dresden bei „Die Hugenotten“ – starr und immun gegen das auch wichtige sinnliche Fluidum des italienisch-französischen Repertoires. Konwitschnys Kühlaggregate verhinderten, dass d’Espinosas Dirigierstab zum den ganzen Abend wärmenden Brennstab werden konnte. „Mehr Emotion wagen“ wäre also nicht die schlechteste Vision für die nächsten Konwitschny-Projekte.

Semperoper Dresden

Bellini: Norma

Gaetano d’Espinosa (Leitung), Peter Konwitschny (Regie), Johannes Leiacker & Kostüme), André Kellinghaus (Chor), Kai Weber (Dramaturgie), Yolanda Auyanet, Roxana Incontrera, Stepanka Pucalkova, Jürgen Müller, Dmytro Popov, Alexandros Stavrakakis, Leonie Nowak

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