Über zehn Jahre lang wird Dietmar Pflegerls Inszenierung von Giacomo Puccinis La bohème an der Oper Graz mittlerweile mit schöner Regelmäßigkeit wiederaufgenommen. Das klassische Bühnenbild erfüllt dabei zuverlässig seine Aufgabe und entführt auch die zahlreich anwesenden, jungen Opernneulinge charmant ins Paris des 19. Jahrhunderts; die Personenregie wirkt dabei dank der szenischen Einstudierung von Christian Thausing frisch wie eh und je. Das Sängerensemble erweckte die Charaktere mit viel Spielfreude zum Leben, gesanglich blieben aber – insbesondere beim zentralen Paar des Abends – Wünsche offen.

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La bohème
© Werner Kmetitsch

Aus technischer Sicht gab es an der Mimì von Joanna Zawartko zwar nicht viel auszusetzen, wenn man von einigen, wohl den Hausdebütnerven geschuldeten, forcierten Tönen absieht. Allerdings klang ihr Sopran an diesem Abend deutlich älter als die Sängerin selbst; das Timbre wirkte trocken und zuweilen spröde, ließ jugendliche Frische und Fülle vermissen und wollte daher nicht so recht zur romantischen Heldin passen. Lediglich in sanften Höhen im Piano entfaltete sich die Stimme so zart wie die Blumen, von denen Mimì singt. Ein weiterer Knackpunkt war die nicht vorhandene Chemie mit ihrem Bühnenpartner Andrei Danilov, der in die Rolle des Rodolfo schlüpfte. Das Kennenlernen im ersten Akt wirkte nicht wie der Beginn einer zauberhaften Romanze, sondern eher wie ein unangenehmes Tinder-Date, dem unter Garantie Funkstille folgt. Gesanglich bot Danilov allerdings viel Schönes: ein farbenreiches Timbre, eine sichere sowie kraftvolle Höhe und eine differenzierte Gestaltung der Partie trösteten darüber hinweg, dass es seinem Tenor an Schmelz und Italianità fehlte.

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Andrei Danilov (Rodolfo) und Joanna Zawartko (Mimì)
© Werner Kmetitsch

Das zweite Paar des Abends bot sowohl gesanglich als auch darstellerisch deutlich mehr Feuer: Als kapriziöse Musetta bestach Tetiana Miyus insbesondere im zweiten Akt mit Bühnenpräsenz und Glamourfaktor. Mit der glasklaren Höhe ihres Soprans und kluger Phrasierung wickelte sie sowohl Publikum als auch Marcello gekonnt um den Finger und im vierten Akt gestaltete sie ein ergreifend inniges Gebet vor Mimìs Tod. Sein Debüt als Marcello absolvierte in dieser Vorstellung Neven Crnić und zu hören, wie spielerisch leicht sich seine Stimme durch den Abend bewegte, war ein purer Genuss. Neben der gesanglichen Virtuosität beeindruckte auch die vielschichtige Gestaltung des Charakters mit stimmlichen Mitteln, denn jede Gefühlsregung – von Melancholie bis Eifersucht – fand in einer passenden Klangfarbe ihre Entsprechung.

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Neven Crnić, Markus Butter, Dariusz Perczak, Andrei Danilov und Daeho Kim
© Werner Kmetitsch

Dariusz Perczak, der in der letzten Wiederaufnahme 2017 als Marcello begeistert hatte, erwies sich erwartungsgemäß als Luxusbesetzung für die Rolle des Shaunard. Elegant strömte sein Bariton durch die Partie, in der Erzählung vom vergifteten Papagei konnte er außerdem sein komödiantisches Talent unter Beweis stellen. Mit zurückhaltender Noblesse stattete Daeho Kim den Colline aus, mit seinem warm timbrierten Bass zeichnete er die Figur als sicheren Fels in der Brandung und legte eine breite Palette an Emotionen und Klangfarben in seine kurze Arie. Mit Markus Butter, Ivan Oreščanin und Martin Fournier wurden drei verlässliche Ensemblekräfte für die Rollen als Benoît, Alcindoro und Parpignol aufgeboten; die Damen und Herren des Chors sowie der Kinderchor hatten ebenfalls sichtlich Spaß daran, wieder einmal einen Abend im Café Momus verbringen zu dürfen und verbanden Spielfreude mit Schönklang.

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Andrei Danilov (Rodolfo) und Joanna Zawartko (Mimì)
© Werner Kmetitsch

Nicht sonderlich dezent starteten die Grazer Philharmoniker im ersten Akt in den Abend, denn was da aus dem Graben kam, war zunächst vor allem knallig und laut. Bis zum Auftritt von Mimì hatte Chefdirigent Roland Kluttig seine Musiker dann zwar wieder eingefangen, die Dynamik etwas gedrosselt und feinere Akzente gesetzt, aber auch danach fehlte es dem Orchester an Schmelz und Gefühl. Die Interpretation von Kluttig war zweifellos präzise und differenziert gestaltet – so erklang etwa der fallende Schnee im dritten Akt wunderbar glitzernd und sanft und durch die Zurücknahme der Streicher kam die Harfe in den romantischen Szenen zwischen Mimì und Rodolfo erst so richtig zur Geltung – allerdings wirkte Puccinis Musik durch die penible Akkuratesse der Umsetzung zu glatt. Die zahlreichen schmachtenden Herzschmerz-Momente wirkten mehr technisch kalkuliert als leidenschaftlich gefühlt, sodass sich ihr Effekt nie voll entfalten konnte und selbst rund um Mimìs Tod kein einziges Tränchen meine Augen füllte.

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