Berlin. Großartige Sänger in der „Götterdämmerung“ an der Deutschen Oper, aber Regisseur Stefan Herheim meidet eine Deutung.

Die Putzfrau kommt zu den letzten Tönen auf die fast leere Bühne und fegt den Boden sauber. So viel zur Götterdämmerung an der Deutschen Oper. Wenige Minuten später erhält Regisseur Stefan Herheim vom Publikum nicht nur Beifall, sondern vor allem Buhs. Das Publikum hat gerade sechseinhalb Stunden mit Wagners „Götterdämmerung“ hinter sich gebracht. Man verspürt den Wunsch, nach dem düster-bunten Weltmythos mit einer Erkenntnis oder Deutung in der Tasche nach Hause zu gehen. Die Taschen bleiben aber leer. Das sollten diejenigen wissen, die sich im November den vierteiligen, insgesamt 16-stündigen Zyklus vom „Ring des Nibelungen“ anschauen. Dieser „Ring“ lebt zuerst im musikalischen Augenblick und von einigen großartigen Sängern.

Dabei hatte der Zyklus im „Rheingold“ mit einem wunderbaren Schöpfungsspaß begonnen. Eine wandernde Gauklertruppe kommt auf die Bühne, aus den Koffern nehmen sie ihre Kostüme. Einer schminkt sich zum Clown und wird zum bösen Alberich. Von Zwergen, Riesen und Göttern handelt das Symbolspiel des Menschlichen. Herheim scheut den Klamauk nicht und führt jetzt vor allem die männlichen Figuren vor. Im Laufe der Jahrzehnte des Regietheaters haben sich einige Regeln durchgesetzt. Lebende Tiere muss man meiden. Und es ist unethisch, mit sterbenden Kindern auf der Bühne Mitleid wecken zu wollen. Das tut Herheim alles nicht, aber er nutzt abgegriffene Retro-No-Gos. Das unendliche Herumlaufen in weißer Unterwäsche gehört zum Repertoire der Biederkeit.

Das Foyer der Deutschen Oper ist die Gibichungenhalle

Das Bühnenbild hat Herheim gemeinsam mit Silke Bauer entworfen. In der „Götterdämmerung“ findet der Siegfried-Mord quasi im holzgetäfelten Foyer der Deutschen Oper statt. Als Gibichungenhalle steht das Foyer auf der Bühne mitsamt der Wandplastik „Alunos-Discus“ von George Baker. Die Idee, auf diese Weise dem Opernpublikum zu spiegeln, dass es eigentlich nur um uns geht, ist auch etwas abgegriffen. Aber raffiniert wird das Kunstwerk in eine schwebende Wolkenlandschaft überführt. Es gibt wunderbare Stimmungsmomente mit Licht und Bewegung. Herheims Personenregie ist großartig. Und er kennt seinen Wagner. Der norwegische Regisseur gehört zu jenen, die das Publikum mit Bildern und Assoziationen grandios überfluten können. In der „Götterdämmerung“ vermisst man das schmerzlich.

Es gibt letztlich nur eine Handvoll Bilder im neuen „Ring“, in dem es angeblich um Flüchtlinge in der Weltgeschichte geht. Auf Fotos aus der Flüchtlingskrise von 2015 sind Rucksäcke und Taschen zu sehen, aber keine dieser altertümlichen Koffer, die Herheim zu riesigen Bergen aufschichten lässt. Sie erinnern eher an Deportationen und Auschwitz. Im „Rheingold“ wurden aus den Koffern noch Wertgegenstände wie eine Menora gestohlen. Aber das Bild löst sich in der „Götterdämmerung“ nicht auf, wie überhaupt am Ende vieles ohne tieferen Bezug nebeneinander stehen bleibt. Der schwarze Flügel in Bühnenmitte ist der Schöpfungsmotor, lange weiße Tücher spielen eine wechselhafte Rolle als Brautschleier oder Leichentuch.

In der Premiere am Sonntag konnte man erleben, dass manchmal ein einziger Akt oder Auftritt genügt, um das Publikum zu überwältigen. Die Waltraute der Mezzosopranistin Okka von der Damerau singt sich im ersten Aufzug mit klarer und zugleich warmherziger Dramatik in das Gewissen ihrer Schwester Brünnhilde ein. Ihr Versuch misslingt zwar, aber das Publikum jubelt ihr am Ende des Aufzugs und beim Schlussapplaus zu. Okka von der Damerau ist die Favoritin dieser Opernpremiere.

Nina Stemmes Brünnhilde strahlt kontrollierte Kühle aus

Die beiden anderen Sängerstars der Aufführung brauchen tatsächlich einen ganzen Aufzug, um sich frei zu singen. Die schwedische Sopranistin Nina Stemme überzeugt in ihrer Paraderolle der Brünnhilde, die eine kontrollierte Kühle ausstrahlt. Der Amerikaner Clay Hilley ist ein Siegfried wie aus einem alten Comicbuch. Herheim führt den Heldentenor, der seine Gutgläubigkeit voller Leichtigkeit hinaus schmettert, auch als naiven Draufgänger vor. Siegfried erinnert an Klein-Obelix, der in einem historischen Siegfried-Kostüm in Gothem City kämpfen muss.

Hagen ist der Joker mit Clownsfratze. Gidon Saks spielt ihn mit düsterer Größe, aber der Sänger ist indisponiert. Ein überraschend charaktervolles Format erhält König Gunther durch den amerikanischen Bariton Thomas Lehman, der nicht nur das Zaudern, sondern auch das Zweifeln aussingen kann.

Eindrucksvoll präsentieren sich der Chor, Extrachor und die Statisten auf der Bühne. In der Inszenierung wird personell geklotzt und nicht gekleckert. Generalmusikdirektor Donald Runnicles und sein Orchester der Deutschen Oper sind ein klingendes Bollwerk, das alles zusammenhält und dramatisch weiterführt.

Herheims Götterdämmerung muss vielleicht noch auserzählt werden. Siegfried wird im Flügel bestattet, die „Flüchtlinge“ legen ihre Kleidung dazu, Brünnhilde stürzt sich mit in die Flammen. Alles versinkt im Bühnenboden. Hagen warnt das Publikum, bloß die Finger vom Ring zu lassen. Dann erscheint eine rote Scheinwerferbatterie. Die Außerirdischen kommen!, denkt man. Und dass der Herheim verrückt sein muss. Aber die Technik fährt wieder hoch. Die Putzfrau erscheint. Der Zauber ist schnell verflogen.