Für seine letzte Saison am Theater an der Wien hat Intendant Roland Geyer noch einmal eines der von ihm verantworteten Glanznummern auf den Spielplan gesetzt: Christof Loys Produktion von Peter Grimes aus 2015, die im Folgejahr den International Opera Award in der Kategorie „Beste Neuproduktion“ gewann und vom Publikum des Theaters an der Wien unter die drei besten des Hauses gewählt wurde. So viel Lob ist natürlich auch Verpflichtung, aber doch sei hier vorweggenommen: Die Erwartungen wurden allenfalls übererfüllt.

Loading image...
Peter Grimes
© Monika Rittershaus

Benjamin Brittens erste große Oper Peter Grimes spiegelt große Lebensthemen des Komponisten – die Verwurzelung in seiner Heimat Suffolk einerseits und sein Außenseitertum als Homosexueller in einer Zeit, als das Ausleben dieser Neigungen noch strafbar war (vom Umgang der Nazis mit den Schwulen zur Entstehungszeit 1944/45 ganz zu schweigen). 

Der Lehrling des Fischers Peter Grimes ist unter ungeklärten Umständen zu Tode gekommen, und die Dorfgemeinschaft unter der Führung von Bürgermeister Swallow warnt ihn, sich noch einmal einen Lehrbuben aus dem Armenhaus zu holen. Bei Britten bzw. seinem Librettisten Montagu Slater (nach der Gedichtsammlung The Borough von George Crabbe) ist dieser Beginn der Geschichte im Versammlungssaal eines englischen Fischerdorfs des 19. Jahrhunderts angesiedelt, doch sucht man diesen Schauplatz wie auch alle anderen bei Christof Loy vergeblich – sofern man sich überhaupt auf die Suche macht und sich nicht von der Entwicklung der Geschehnisse, wie sie Loy inszeniert, mitreißen lässt.

Loading image...
Gieorgij Puchalski (John, Grimes' Gehilfe) und Eric Cutler (Peter Grimes)
© Monika Rittershaus

Im Prolog steht Grimes nicht vor der Dorfgemeinschaft, sondern letztere konfrontiert ihn nachts im Bett mit Anschuldigungen zum Tod seines Lehrlings, und damit wird sofort klar: Grimes liegt metaphorisch am Rücken, und die Anderen stehen albtraumartig über ihm. Das Bett, schräg über dem Orchestergraben hängend, bleibt der einzige optische Anker im ansonsten leeren Bühnenbild. Mehr braucht es auch gar nicht, denn erzählt wird durch meisterhafte Personenregie und Choreographie. Alles wirkt wie aus einem Guss, denn so wie Britten in geradezu wagnerianischer Meisterschaft Wort und Musik verschmolzen hat, verschmilzt auch diese Inszenierung mit dem Werk und verleiht ihm gerade durch ihre Abstraktion eine neue Dimension, jene der Allgemeingültigkeit. Der Archetyp des Außenseiters trifft auf das unberechenbare und gnadenlose Kollektiv, in dem sich einige wenige – positiv wie negativ – exponieren. Visuell wird dies in den modern-zeitlosen Kostümen von Judith Weihrauch umgesetzt, welche die Dorfgemeinschaft in unscheinbaren Grautönen tarnt, während die Solisten klare Farben tragen – der bigotte Bob Boles etwa Neidgrün und Aunties kabarettreife Nichten Barbierosa. Grimes trägt statt Arbeitskluft einen hellen, weißlichen Anzug, was für seine Unschuld spricht, wenn man die werkimmanente Ambiguität seiner Geschichte so auslegen will.

Loading image...
Lukas Jakobski (Hobson) und Agneta Eichenholz (Ellen Orford)
© Monika Rittershaus

Angesichts des netten Seebären, den Eric Cutler abgibt, möchte man auch lieber glauben, dass Grimes unschuldig ist oder einfach Pech hat. Cutler beeindruckte mit einer Stimme von heldenhafter Durchschlagskraft, seine Verzweiflung, sein Zorn, und auch das Kippen in den Wahnsinn zum Schluss wirkten glaubwürdig und waren nicht zuletzt klug gespielt. Agneta Eichenholz als Ellen Orford unterstützt ihn wie ein Schutzengel, ohne je in die Naivitätsfalle zu tappen – oder doch? Die aufdringlichen Avancen von Grimes‘ neuem Lehrling bemerkt sie jedenfalls nicht. Weniger als ihr Spiel gefiel ihr sehniger Sopran, auch wenn stimmliche Makellosigkeit bei den Frauen in Peter Grimes nicht die Hauptsache ist. Im Quartett mit Auntie und ihren beiden Nichten (wohltönend die Ensemblemitglieder Miriam Kutrowatz und Valentina Petraeva) vermisst man sie aber doch ein wenig. Als unverwechselbare„Typen“ zeichneten auch die beiden Sängerinnenlegenden Hanna Schwarz (Auntie) und Rosalind Plowright (Mrs. Sedley) ihre Charaktere. Interessant und in dieser Inszenierung überzeugend ist auch die Darstellung von Bolstrode (Andrew Foster-Williams) als jemand, der dieselben Neigungen wie Grimes hat, und von ihm die Außenseiterrolle im Dorf erben wird. Seine Leistung war ebenso tadellos wie jene der übrigen Herren. Davon herausgegriffen seien das überzeugende Haus-Debüt vonThomas Faulkner als Swallow sowie Lukas Jakobski als Fuhrmann und der immer wieder gern gesehene Andrew Crossley-Mercer als windiger Apotheker Ned. Auch die (gewohnte) Musikalität des Arnold Schoenberg Chors in Gesang und Bewegung begeisterte.

Loading image...
Peter Grimes
© Monika Rittershaus

Gieorgij Puchalski in der stummen Rolle von Grimes‘ neuem und schmalem „Lehrling“ beherrscht das Posen-Repertoire einer Fashion Influencerin und scheint – trotz Jesus-artiger Unschuldsmiene – nur danach zu trachten, seinen spätpubertären Hormonrausch auszuleben. Damit weicht bei Loy das Thema Pädophilie dem universelleren (und populäreren) Thema von fataler Attraktion: Bereits bei seinem ersten Auftritt des jungen Mannes weiß man, dass er eine Herausforderung des Schicksals symbolisiert, der Grimes nicht gewachsen sein wird.

Loading image...
Gieorgij Puchalski (John, Grimes' Gehilfe) und Eric Cutler (Peter Grimes)
© Monika Rittershaus

Für die musikalische Leitung des ORF Radio-Symphonie-Orchester Wien erwies sich Thomas Guggeis als Glücksfall. Die an diesem Abend gehörte Präzision der Einsätze und der Sängerführung beeindruckte ebenso wie seine Vielseitigkeit beim Herausarbeiten der Farben, Formen und Emotionen der Partitur. Spannend auch, welche Assoziationen ein kompetentes Dirigat auslösen kann: Die Motivik, zu der Grimes am Schluss aufs Meer und in den Tod fährt, wirkte wie eine umgekehrte und zerlegte Version des Naturmotivs aus der Rheingold-Ouvertüre: der Untergang eines tapfer Gescheiterten, grundiert von einem nebelhornartig geblasenen Es in der Tuba – ein genialer Schluss für einen unvergesslichen Opernabend.

*****