Gianandrea Noseda: «Ich sehe mich in der grossen italienischen Tradition eines Toscanini»

Der neue Generalmusikdirektor des Opernhauses Zürich fühlt sich im russischen und im deutschen Repertoire genauso zu Hause wie in der italienischen Oper. Wer ist Gianandrea Noseda?

Christian Wildhagen
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Flammenzeichen der Liebe? Dem Glück von Leonora (Marina Rebeka) und Manrico (Piotr Beczała) ist keine Zukunft beschieden: Szene aus Verdis «Il trovatore» am Opernhaus Zürich.

Flammenzeichen der Liebe? Dem Glück von Leonora (Marina Rebeka) und Manrico (Piotr Beczała) ist keine Zukunft beschieden: Szene aus Verdis «Il trovatore» am Opernhaus Zürich.

Monika Rittershaus

Musikalisch habe es gewiss etwas zu bedeuten, dass die Oper Zürich nach dem Ende der Ära von Fabio Luisi «weiterhin in italienischer Hand bleibt». So prophezeit es deren Chefdramaturg Claus Spahn, ein bisschen geheimnisvoll, in einem Begrüssungsartikel für das hauseigene Magazin. Begrüsst wird darin aufs Herzlichste der neue Generalmusikdirektor: der 1964 in Mailand geborene Gianandrea Noseda, der am Wochenende mit Verdis «Il trovatore» seinen vielversprechenden Einstand am Sechseläutenplatz gab.

Gianandrea Noseda, der neue Generalmusikdirektor der Oper Zürich.

Gianandrea Noseda, der neue Generalmusikdirektor der Oper Zürich.

Christoph Ruckstuhl / NZZ

Was aber hat es denn zu bedeuten? Ist es für Noseda überhaupt von Belang, dass er international als Fachmann für das italienische Repertoire gehandelt wird? Fühlt er sich selber als ein italienischer Dirigent? Bei unserer Begegnung im Opernhaus, die in Nosedas auffallend spartanisch eingerichtetem Dienstzimmer stattfindet, stutzt der Maestro einen Augenblick lang. Dann lacht er freundlich – er ist überhaupt bester Laune an diesem Nachmittag, obwohl er am Morgen bereits eine Hauptprobe zum «Troubadour» absolviert hat.

Russisch, deutsch

«Natürlich bin ich ein italienischer Musiker, schon weil ich meine Ausbildungen als Dirigent, Pianist und Komponist in Italien absolviert habe. Vor allem meine Lehrjahre bei Donato Renzetti in Pescara waren für mich prägend. Ich sehe mich durchaus, bei aller Bescheidenheit, in der grossen italienischen Tradition eines Toscanini oder Victor de Sabata.» Gleichwohl ahnt er, worauf die Frage zielt, und legt lieber gleich alle Karten auf den Tisch: «Als ich 1993 an der Accademia Chigiana in Siena einen Meisterkurs mit Valery Gergiev absolvierte, hat er mich mit Brahms’ 3. Sinfonie und Tschaikowskys ‹Romeo und Julia›-Fantasie zehn Tage lang sehr intensiv in die deutsche und in die russische Musik eingeführt.»

Namentlich die russische wird schon wenig später zu einem zweiten Stützpfeiler von Nosedas Repertoires: 1997 holt ihn Gergiev als Principal Guest Conductor ans Petersburger Mariinsky-Theater. Noseda, der erste Ausländer in der Funktion, bleibt dort bis 2007 und dirigiert neben den Zugstücken der italienischen Oper bald auch alle Schlachtrösser der russischen Tradition, von «Eugen Onegin» und «Boris Godunow» bis zu Prokofjews «Krieg und Frieden». Es war somit alles andere als ein Zufall, dass er sein aufsehenerregendes Debüt am Opernhaus Zürich im Mai 2017 ebenfalls mit einem Bühnenwerk Prokofjews gegeben hat, einem sehr ausgefallenen zumal: dem hierzulande immer noch ausgesprochen exotisch wirkenden «Feurigen Engel».

In St. Petersburg dirigierte Noseda seinerzeit mit dem «Fliegenden Holländer» und «Lohengrin» auch seine ersten beiden Opern von Wagner – also jenem Komponisten, der durch die im Frühjahr 2022 beginnende Arbeit an einem neuen Zürcher «Ring»-Zyklus absehbar im Zentrum seines hiesigen Engagements stehen wird. Die besondere Affinität zum deutschen Repertoire sieht Noseda früh in seiner Ausbildung als Pianist angelegt – lag dort der Fokus doch deutlich weniger auf der virtuosen Tastenkunst eines Chopin oder Rachmaninow als vielmehr bei den drei grossen B: Bach, Beethoven, Brahms.

Gerade Brahms ist ihm noch heute besonders nah. So gelang Noseda im Februar 2021 mit der Streaming-Aufführung des «Deutschen Requiems», die das Zürcher Opernhaus den Corona-Auflagen abgetrotzt hatte, nicht nur ein bewegendes Zeitdokument, sondern auch eine auffallend stimmige Interpretation.

Neugier eines Spätberufenen

Noseda selbst empfindet seinen Werdegang im Ganzen denn auch als untypisch für einen italienischen Dirigenten. «Ich kann strenggenommen noch nicht einmal behaupten, dass ich, wie viele meiner italienischen Kollegen, als typischer Opernkapellmeister angefangen hätte: Mein erster Auftritt in Italien war ein Konzert, und zwar mit Prokofjews Fünfter, und beim zweiten stand Liszts ‹Faust›-Sinfonie auf dem Programm», erinnert er sich und muss selber schmunzeln.

Schon als Jugendlicher in Mailand habe er zuerst häufiger die Sinfoniekonzerte an der Scala besucht als die Vorstellungen. «Mein Einstieg als Operndirigent war dann eine ‹Cenerentola›, aber das war anfangs, ehrlich gesagt, überhaupt nicht ‹my cup of tea›.» Wirklich erschlossen habe er sich die Werke von Rossini über Verdi bis Puccini erst in St. Petersburg: «weil Gergiev sie vertrauensvoll in meine Hände gelegt hat». Obwohl er im Mutterland der Oper mit dieser Musik aufgewachsen ist, erscheint ihm sein eigener Zugang als Interpret wie derjenige eines Spätberufenen, der sich dann aber umso hingebungsvoller darauf eingelassen hat. Geblieben sei ihm die dafür wichtige Neugier, aber auch der Wunsch, einen eigenen Zugang zu den Partituren zu entwickeln.

Ein wenig erinnert das an Riccardo Chailly, den heutigen Musikdirektor der Scala, der gleichermassen im Konzert reüssiert und immer wieder durch Ausgrabungen, etwa von Früh- oder Alternativfassungen bekannter Stücke, auf sich aufmerksam macht. Noseda wiederum engagiert sich seit Jahren unter anderem mit verdienstvollen Einspielungen für die Wiederentdeckung vernachlässigter Werke, beispielsweise von Luigi Dallapiccola oder von dem Mahler-Bewunderer Alfredo Casella.

Neu entflammt

Heute fühlt sich Noseda in beiden Welten zu Hause, in der Oper wie im Konzert. Nicht zufällig ist er auch Musikdirektor des National Symphony Orchestra in Washington und Erster Gastdirigent des London Symphony Orchestra. Als Konzertdirigent wird er sich vom 30. Oktober an mit der Philharmonia bei drei Auftritten mit Daniil Trifonov dem Publikum in Zürich, Basel und Bern vorstellen. Umgekehrt will er seine vielfältigen Erfahrungen im sinfonischen Bereich nun künftig regelmässig für seine Zürcher Operndirigate nutzbar machen. Würde man das bei der Premiere von Verdis «Troubadour» am Sonntag bereits hören können?

Man konnte – und wie! Denn bei dieser am Ende fast einhellig gefeierten Produktion ist nach wenigen, von Anfangsnervosität überschatteten Minuten klar, wo das Zentrum der Aufführung liegt: im Orchestergraben, bei der hochkonzentriert, mitunter fast übermotiviert spielenden Philharmonia. Das Herz und der Kopf aber, der das Geschehen ebenso befeuert wie im Zaum hält, das ist Noseda. Er findet in dem vermeintlich allein der Sängerbegleitung dienenden Orchesterpart des «Trovatore» ungewöhnliche Farben, selten gehörte Instrumentalsoli und eine rhythmische Zugkraft, die buchstäblich jeden für das in abertausend «Best of opera»-Rezitals ausgeschlachtete Werk neu entflammen kann.

Und überhaupt: der Rhythmus. Das Gespür für die unablässig pulsierende Energie in Verdis Musik ist wahrscheinlich das auffälligste Merkmal in Nosedas Dirigat, das man mit der vielbeschworenen «italianità» in Verbindung bringen könnte – also jenem charakteristisch pointierten Zugriff, der tatsächlich für viele italienische Maestri typisch ist. Noseda verbindet dies mit seinem Vorgänger Luisi, der namentlich Verdi-Partituren ähnlich akkurat auf den Punkt zuspitzte und in den besten Momenten gerade aus dieser Uhrwerk-Präzision eine unerwartete Farbigkeit zu gewinnen wusste. Hier könnte sich, so betrachtet, wirklich eine italienische Traditionslinie am Opernhaus etablieren.

Alles Wesentliche

Noseda gibt allerdings dem Sinfonischen noch mehr Raum: Spürbar wird bei ihm eine Tendenz, die herkömmliche Hierarchie zwischen Bühne und Graben aufzugeben zugunsten eines Konzepts, in dem die Gesangsstimmen wie Instrumentalsoli in den Gesamtklang eingebettet werden. Das funktioniert hinreissend in den kompositorisch ohnehin fesselnden Szenen der Azucena, die Agnieszka Rehlis mit Verve und totalem Stimmeinsatz verkörpert.

Stärker verändert Nosedas integrales Klangkonzept die Rollen von Leonora und Manrico, dem tragischen Liebespaar der Oper. Sie stehen dem älteren Belcanto mit seiner stilprägenden Dominanz der Stimme näher; Noseda setzt indes auch hier auf eine dichte Interaktion mit dem Orchester – auf feinste Rubato-Nuancen, auf gemeinsames Atmen. Jeder sängerische Ego-Trip, so typisch für mittelmässige Aufführungen dieses Stücks, wird dadurch vereitelt.

Der Zürcher Publikumsliebling Piotr Beczała fremdelt bei seinem Rollendebüt als Manrico dennoch mit diesem dehnbaren, aber klar gesetzten Rahmen. Er verlässt sich, wie neuerdings leider bei fast allen seinen Partien, vor allem auf den blitzenden Stahl in seiner herrlichen Tenorstimme. Noseda aber weiss, dass Beczała über weit mehr Zwischentöne verfügt, und fordert sie ein. Das geht an diesem Abend noch nicht recht zusammen – und bei der Cabaletta «Di quella pira», dem einzigen echten Show-Piece der Oper, sogar schief. Aber das Feuer lodert trotzdem hell in dieser spannungsvollen Begegnung.

Auch das Rollendebüt von Marina Rebeka als Leonora glüht, wenngleich in feineren, gegen Ende berührend subtil abschattierten Tönen. Dass ihr Porträt der tragisch Liebenden ähnlich klischeehaft bleibt wie das ihres Gegenspielers Luna (Quinn Kelsey klingt an der Premiere seltsam belegt und überfordert), kann man wahlweise dem kolportagehaften Textbuch oder der Regie von Adele Thomas zur Last legen. Thomas konzentriert sich darauf, das Stück in phantasievollen Bildern szenisch virtuos zu arrangieren, sogar mit ein paar ironischen Brechungen. Zum Leben bringen kann aber auch sie die Figuren nicht. Macht nichts – alles Wesentliche erzählt an diesem Abend ohnehin die Musik.

Mehr von Christian Wildhagen (wdh)

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