Neue Ära an der Bayerischen Staatsoper: Mit zu vielen Nasen verliert der Mensch sein Gesicht

Kirill Serebrennikow ist ein hellsichtiger Kritiker totalitärer Entwicklungen. Jetzt eröffnet seine radikale Deutung der «Nase» von Schostakowitsch die Intendanz von Serge Dorny in München. Leider wird dieser künstlerische Triumph von Corona-Querelen überschattet.

Marco Frei, München
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Ein paar Erker mehr im Gesicht, da leidet prompt die Individualität: Szene aus Kirill Serebrennikows Inszenierung der «Nase» von Dmitri Schostakowitsch an der Bayerischen Staatsoper.

Ein paar Erker mehr im Gesicht, da leidet prompt die Individualität: Szene aus Kirill Serebrennikows Inszenierung der «Nase» von Dmitri Schostakowitsch an der Bayerischen Staatsoper.

Wilfried Hösl

Sein Start in München war bisher mehr ein Stolpern. Als neuer Intendant der Bayerischen Staatsoper hat Serge Dorny sogar einen echten Konfliktherd geschaffen. Es geht, nicht um ersten Mal, um die Corona-Bestimmungen am Haus. Wie Ende September durchsickerte, gilt an der Staatsoper für freie Mitarbeiter eine interne 2-G-Regel; demnach müssen Freischaffende genesen oder geimpft sein, um Engagements zu erhalten. Eine Testung reicht bei ihnen nicht, es sei denn, es bestehen gesundheitliche Risiken bei einer Impfung oder die künstlerische Qualität macht sie unentbehrlich.

Festangestellte Mitarbeiter und das Publikum können hingegen weiterhin auch einen Test vorweisen (wobei ab dem 9. November für das Publikum nur noch PCR-Tests zugelassen sind). Die strengeren Auflagen für Freischaffende begründet das Haus damit, dass man die Gesundheit der festangestellten Belegschaft wie auch des Publikums schützen wolle. Das Pressebüro verweist bei dieser Praxis konkret auf die Wiener Staatsoper. Zudem betont man, dass die Entscheidung nicht von Dorny allein getroffen worden sei, sondern gemeinschaftlich am Haus. Das macht die Sache allerdings nicht weniger problematisch.

Freiheitliche Ungleichheit

Unter Juristen in Deutschland wird längst kontrovers diskutiert, ob eine derartige Ungleichbehandlung von festen und freien Mitarbeitern rechtens sei. Das grössere Problem ist jedoch ein drohender Verlust an Glaubwürdigkeit: Steht Dorny als Intendant doch eigentlich seit Jahren für ein freiheitliches Menschenbild und kritische gesellschaftliche Diskurse. Mit dieser Haltung hat er fast zwanzig Jahre lang an der Opéra de Lyon gewirkt, und dieses Profil wird jetzt auch in der ersten Premiere seiner Intendanz in München hochgehalten.

Hierfür wurde Dmitri Schostakowitschs Bühnenerstling «Die Nase» von 1927/28 nach der gleichnamigen Novelle von Nikolai Gogol ausgewählt. Am Pult des Bayerischen Staatsorchesters steht der neue Generalmusikdirektor Vladimir Jurowski, für die Regie zeichnet Kirill Serebrennikow verantwortlich. Wenn es um die besagten kritischen Diskurse geht, ist Serebrennikow ein Experte.

Seit 2017 wird in Russland gegen ihn wegen angeblicher Veruntreuung von Subventionsgeldern ermittelt. Er war bereits inhaftiert, stand unter Hausarrest, und sein Pass wurde eingezogen. Seit August 2017 inszeniert Serebrennikow deshalb per Video, Telefon und Internet, zuerst «Hänsel und Gretel» in Stuttgart, 2018 «Così fan tutte» in Zürich und jetzt «Die Nase». Die bühnenpraktische Umsetzung vor Ort in München übernahm ein weiteres Mal der Assistent Jewgeni Kulagin.

Einer erhängt sich

Der Stoff scheint wie geschaffen für Serebrennikow. Immerhin geht es in dieser Gesellschaftssatire um obrigkeitshörigen Karrierismus, Entindividualisierung und entmenschlichte Bürokratie. Angesichts der staatlichen Willkür, der er selber ausgesetzt ist, rückt Serebrennikow in seiner Regie einen Polizeistaat in den Fokus. Hierfür stellt er die Verhältnisse auf den Kopf, um die Intentionen von Gogol und Schostakowitsch wirkungsvoll zu verstärken. Sein Platon Kowaljow wacht, anders als im Original, nicht ohne eine Nase auf, die dann selbständig Karriere macht, sondern: Er hat plötzlich keine Polizeiuniform und keine anonym entstellende Maske mehr. Er ist ein normaler Mensch mit individuellen Gesichtszügen und mit einer Nase – und genau das ist das Problem.

Dieses Szenario erinnert an das 1959 uraufgeführte Theaterstück «Die Nashörner» von Eugène Ionesco. Hier mutiert eine ganze Stadt zu Nashörnern, am Ende bleibt nur ein einziger normaler Mensch zurück. In seiner Regie entlarvt Serebrennikow zugleich die Kontinuität der russischen Geschichte: vom Zarenreich über den Kommunismus bis ins Heute. Hierzu werden Fernsehbilder aus dem Sommer 2020 eingeblendet. Sie zeigen die Prostete in St. Petersburg gegen die Verhaftung von Alexei Nawalny.

Gegen Ende der Oper erklingt zudem Schostakowitschs 8. Streichquartett von 1960. Es ist dessen persönliches Requiem, zugleich ein düsterer Abgesang auf die Epoche unter Stalin. Während das Quartett erklingt, zitiert das Bühnenbild das Gemälde «Der Ballon fliegt davon» von Sergei Lutschischkin. Zwischen zwei Hausfassaden ist ein Mädchen zu sehen, ein Ballon steigt in den Himmel. Hinter den Fenstern sieht man vereinsamte Menschen, einer erhängt sich.

Licht und Schatten

Lutschischkins Bild ist 1926 entstanden und wirkt wie eine Vorwegnahme der Lebensrealität im «Grossen Terror» Mitte der 1930er Jahre. Als Kowaljow wieder zum anonymen Maskenmenschen in Polizeiuniform geworden ist, prügelt er zunächst auf Menschen ein. Sobald das Streichquartett erklingt, beginnt er bitterlich zu weinen. In diesem Moment erkennt er, dass er Teil des Systems ist, und betrauert zugleich das Schicksal Russlands. Bis zu dieser finalen Szene wirkt die Bühne wie ein übergrosses Gefängnis.

Polizisten schneiden Menschen die Nasen ab. Im berühmten Schlagzeug-Intermezzo rücken Kettenfahrzeuge mit grellen Scheinwerfern bedrohlich näher. Leichenteile werden aus der zugefrorenen Newa gefischt. Dieses «Mütterchen Russland» ist grausam. Was das Bayerische Staatsorchester und der Staatsopernchor unter Jurowski leisten, das ist wahrlich gross – trotz manchen Längen in der zweiten Hälfte. Die bissige Groteske und die kühne Avantgarde in der Partitur werden nicht effekthascherisch überzeichnet, sondern klar seziert.

Als Kowaljow brilliert Boris Pinkhasovich: Seine stimmliche und darstellerische Agilität nimmt genauso gefangen wie der Tenor von Sergey Skorokhodov, der schaurig-grell der Nase Gestalt gibt. Ob Sergei Leiferkus als Barbier Ivan, Laura Aikin in der Partie von Ivans Frau Praskowja oder Doris Soffel als schrullig-skurrile Diva im Sarg: Bis in die kleinste Rolle wird der zwischen Lautmalerei, Rezitativ und Arioso wechselnde Vokalstil des jungen, wilden Schostakowitsch mustergültig ausgestaltet. Diese «Nase» ist künstlerisch fraglos ein triumphaler Auftakt; schade, dass er durch die internen Querelen überschattet wird.

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