Das Programmheft ist so klein und nüchtern wie ein Parteibuch und auf der Bühne werden groteske Nasen-Prothesen gesammelt, wie sonst schillernde Orden am Revers von kommunistischen Generälen. Dimitri Schostakowitschs noch nie zuvor in München gespieltes Frühwerk in drei Akten, Die Nase, zeigt sich in den ausgewaschenen Grautönen des St. Petersburger Winters. Schon nach wenigen Takten ist klar, dass die Bayerische Staatsoper mit der ersten Neuinszenierung unter dem neuen Intendanten Serge Dorny genauso zeitgemäße wie politische Akzente setzen möchte.

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Die Nase
© Wilfried Hösl

Im Zentrum der Handlung steht der Major Kusmitsch Kowaljow, der, so will es das Libretto, in der fünften Szene ohne Nase aufwacht. Das abgeschnittene Körperteil entwickelt ein Eigenleben und Kowaljow verbringt den Rest der Oper damit, ihr, in immer absurder werdenden Szenenfragmenten, entlang der zugefrorenen Newa nachzujagen.

Satire in Reinstform und damit genug Stoff für eine beschwingte Komödie. Doch Kirill Serebrennikov spürt mit seiner Inszenierung dem massenpsychologischen Kern hinter der misslichen Lage des nasenlosen Protagonisten nach und dreht die Geschichte um. Kowaljow wacht in seinem eigenen Körper auf – während alle um ihn herum, maskengleich, mehrere Nasen im Gesicht und imposante Fatsuits tragen. Wem dieses Attribute fehlen, der, so wird in den knapp zwei Stunden der pausenlosen Aufführung immer wieder deutlich, hat keinen Platz in der Gesellschaft. Das prominente Riechorgan wird zum Privileg und damit gleichermaßen zum Sinnbild für die Absurdität von Privilegien.

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Die Nase
© Wilfried Hösl

Polizisten, einer mehr Nasen als der andere, sind allgegenwärtig. Mit Schlagstöcken und Absperrgittern tanzen sie groteske Reigen um Demonstranten. Wer abgeführt wird, dem werden im Gefängnis die Nasen abgeschnitten. Rumschnüffeln unerwünscht. Sicherlich nur einer von vielen Seitenhieben auf die Obrigkeit in Moskau, die Serebrennikov aktuell die Ausreise verweigern. Der Russe konnte die Regiearbeiten deswegen nur per Videoschaltung übernehmen.

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Die Nase
© Wilfried Hösl

Neben politischem Sprengstoff ist auch musikalisch einiges geboten. Von orthodoxen Chorälen und schmachtenden Balalaikaklängen, bis hin zu singenden Sägen und angriffslustigen Perkussionisten-Soli ist alles vertreten. Der neue Generalmusikdirektor Vladimir Jurowski entlockte dem Orchestergraben mit großer Präzession die bachanale Bandbreite der temporeichen Partitur, blieb dabei aber, passend zum tristen Einheitsgrau auf der Bühne, vergleichsweise düster, und manchmal sogar fast zornig.

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Boris Pinkhasovich (Kusmitsch Kowaljow)
© Wilfried Hösl

Bei der imposanten Größe des durchweg fabelhaften Ensembles – 82 Rollen sind im Libretto vorgesehen! – ist es unmöglich, Einzelleistungen hervorzuheben. Nur so viel muss erwähnt werden: Es ist eine wahre Freude Boris Pinkhasovich als Kovaljow durch die Irrungen und Wirrungen der Handlung zu folgen. Mal aufbrausend, mal fluchend, mal jammernd und dann freudetaumelnd warm – mit maximalem Einfühlvermögen für die extremen Stimmungsschwankungen der Hauptrolle, überzeugte der Russe auf ganzer Linie. 

Etwas schwieriger hingegen ist die Bewertung der gesamten Inszenierung. Im schummrigen Licht des Zuschauerraums sind selbst schon in der Mitte des Parketts die Nasenprothesen des Ensembles kaum zu erkennen – ein oder zwei Preiskategorien weiter hinten verschwimmen diese zentralen Requisiten zur entstellenden Fratze. Schade, wo dieser sonst so gelungene Abend, mit seinen wohlplatzierten – und an keiner Stelle überfrachteten – Pointen durchweg positiv auffiel.

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Doris Soffel (Gräfin)
© Wilfried Hösl

Etwa als ganz am Ende ein kleines Mädchen mit einem roten Ballon vor der betongrauen Szenerie einer St. Petersburger Satelitenstadt entlang läuft. Kurzzeitig fühlt man sich an Banksy erinnert, doch dann macht es plötzlich Peng! Zerplatz hier Kowaljows Traum oder Russlands Zukunft? Es sind diese kleinen Szenen im Hintergrund, die Serebrennikovs Arbeit auszeichnen und diese Aufführung so spannend machen.

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