WELTGo!
Journalismus neu erleben und produktiver werden
Ihr Assistent Journalismus neu erleben und produktiver werden
WELTGO! ENTDECKEN
  1. Home
  2. Kultur
  3. Klassik
  4. Legendäre Operette „Pariser Leben“ von Jacques Offenbach: erstmals im Original

Klassik Jacques Offenbach

Das „Pariser Leben“, endlich so wie sein Schöpfer es wollte

Freier Feuilletonmitarbeiter
Männer, die Sex wollen. Szene aus „La Vie parisienne“ Männer, die Sex wollen. Szene aus „La Vie parisienne“
Männer, die Sex wollen: Szene aus „La Vie parisienne“
Quelle: Vincent PONTET
Jacques Offenbachs legendäre Operette wurde 150 Jahre unvollständig gespielt. Jetzt wird es in Rouen erstmals komplett aufgeführt. Bald sieht man es auch im Fernsehen. Großen Anteil an diesem späten Triumph hat ein weltberühmter Modemacher.

Was wäre, wenn „Die Fledermaus“ von Johann Strauß als berühmteste deutsche Operette seit bald 150 Jahren unvollständig gespielt werden würde? Das ist zum Glück nicht der Fall. Obwohl wir inzwischen wissen, dass da nicht alles wirklich vom Walzerkönig komponiert wurde; der Bearbeiter Richard Genée hat einen weit bedeutenderen Anteil an der Komposition als üblich. Und die französische Vorlage wurde auch sehr deutlich beibehalten.

Der bekanntesten französischen Operette, dem „Pariser Leben“ von Jacques Offenbach, ist es hingegen widerfahren, wissentlich gekürzt aufgeführt zu werden. Bisher. Doch jetzt wurde das vor der Premiere 1866 massiv gekürzte Stück erstmals komplett gegeben – vor einem begeisterten Publikum in Rouen. Von dort wird diese Produktion durch ganz Frankreich und Belgien touren, im Dezember steht das Pariser Théâtre des Champs-Élysées im Kalender. Es wird eine CD entstehen, und der TV-Sender Arte überträgt das Spektakel, bei dem erstmals der Pariser Modestar Christian Lacroix Regie geführt hat, am 2. Januar 2022.

Na klar, die Essenz dieses frechen Stücks, das selbst das französische Kaiserpaar und der französische Zar sehen wollten, die bleibt immer erhalten: zwei Lebemänner, enttäuscht von der Liebe zu gleichen Kokotte, täuschen einem adeligen schwedischen Touristenpaar Grand-Hotel-Luxus und Society-Fest vor, um die Dame ins Bett zu bekommen. Der Mann hingegen ist auf die Kokotte scharf, die ihm wiederum die eigene Frau unterjubelt.

So ist am Ende jeder ein betrogener Betrüger, an der Dinnertafel sitzen Schuster und Handschuhmacherin samt Freunden, ein irrer Brasilianer deliriert zudem amüsierwütig durchs Stück. Eine geplatzte Hose wird zum großen Finalgesangsanlass. Und die Röcke über Cancan-zuckenden Beinen, die machen „Frou,frou,frou“. Paris – sein eigenes Klischee, über das hier alle lachen, singen, tanzen.

Aber die originale „La Vie parisienne“-Premiere, die war das reinste Chaos. So wie bei Jacques Offenbach eigentlich immer. Stets knapp bei Kasse, komponierte er nicht selten an drei Stücken gleichzeitig, die Nachfrage der dicht theaterbestückten Pariser Boulevards war unersättlich. Am Théâtre-Royal (das heute noch existiert) waren neben der Offenbach-Muse (und Geliebten) Zulma Bouffar singende Schauspieler beschäftigt, denen die anspruchsvollen Partien zu schwer waren. Auch war wieder alles viel zu lang. Man kürzte, stellte um, revidierte; schließlich regierte das Hackebeil. Die Librettisten Henri Meilhac und Ludovic Halévy (ein paar Jahre später auch bei Bizets „Carmen“ dabei) waren sauer, Offenbach pragmatisch.

Wie so oft in der Operette wirkte in der späteren dreiaktigen (von ursprünglich fünften) Fassung der letzte Akt immer ein wenig wie unlustig angeklebt. Man hatte seine Amüsement-Pulver verschossen, wollte nur noch schnell das Ende. Offenbach war längst mit neuen Meisterwerken beschäftigt, wer dachte da schon an eine Operetten-Ewigkeit? Die deftigen deutschen Sätze und Singstrophen der rustikalen Domestiken fielen zudem dann nach dem verlorenen 70/71er Krieg auch noch raus.

Was der Experte übersah

Erstaunlich ist freilich, dass der führende Offenbach-Experte Jean-Christophe Keck bei diesem Hauptwerk nicht weitersuchte. So hat jetzt der junge Forscher Sebastien Troester – in bewährter Partnerschaft mit der inzwischen auch Frankreichs Unterhaltungsmusikerbe pflegenden Stiftung Palazzetto Bru Zane – die Schnipsel zusammengesammelt aus den schwer zu durchpflügenden Hinterlassenschaften diverser Theater, Manuskriptsammlungen, Zensurlibretti, Dirigentenpartituren. Anders als bei den unvollendeten „Les Contes d’Hoffmann“ mit ihren unzähligen Variationen, gab es bei „La Vie parisienne“ eine vollständige Partitur. Bis einst die Schere geholt wurde.

Und bis auf ein später nachkomponiertes, hier beibehaltenen Arie des Gardefeu, erklang diese Partitur nun erstmals komplett. Von 35 Musiknummern sind 16 neu oder in der Urfassung zu hören. Das ist nicht immer spektakulär, der vierte Akt besteht weitgehend aus Spielszenen, denn auch auf die originalen Dialoge wurde nun Wert gelegt. Aber es macht doch einen Unterschied. Vor allem, weil dieses sowieso schon überdreht-überschäumende Werk jetzt noch greller, schriller, absurder aus dem Orchestergraben blubbert, schmettert und moussiert.

Wo Romain Dumas am Pult grandios vital-versatile Figur macht. Wie auf der Palazzetto-Neuaufnahme von Lecoqs klassischer Operette „La fille de Madame Angot“ setzt er auf Tempo, Varianz und knallende Melodik. Das Stück prescht voran, aber es geht ihm nie die Luft aus. Orchester, Chor, Tänzer und das wunderbar schräge Ensemble von enorm hoher Qualität (man mag gar keinen besonders herausheben, jeder hat seinen speziellen Moment) fügen sich zu einer wild bewegten, durcheinanderwirbelnden, sich im Singdelirium steigenden Einheit.

Anzeige

Als wäre es eine Inszenierung von Herbert Fritsch, aber weniger spieldosenhaft und mechanisch, mit einem Schuss espritvoller Menschlichkeit, so schnurrt die Regie des besten aufgelegten Christian Lacroix ab, der sich viel zu lange an der Seite von inszenierenden Langweilern nur mit dem Kostümdesign begnügt hat. Hier ist er Ausstatter und Maître de l’Offenbach plaisir zugleich.

Sein wandelbarer Raum mit Bauaufzug und Empore scheint Bahnhof und Salon und Schlafzimmer zugleich, ist öffentlicher wie intimer Ort. Pompös sind die Hüte, Perücken und Tornüren, bunt, knallig, aber harmonisch. Belle Époque und punkige Moderne zugleich. Abgewohnt wie vom Flohmarkt aber sind die Möbel dieser fadenscheinig bleich geschminkten Existenzen aus Betrügern, Provinzadel, Möchtegerns, Kammerzofen und schrulligen Schachteln. So ätzt auch ein wenig die Sozialkritik, dieses so dauerhüpfende „Pariser Leben“ hat Joie de Vivre klappert aber auch als nicht selten melancholisch-grotesker Totentanz mit wackligen Zähnen.

Hier können Sie unsere WELT-Podcasts hören
Um eingebettete Inhalte anzuzeigen, ist deine widerrufliche Einwilligung in die Übermittlung und Verarbeitung von personenbezogenen Daten notwendig, da die Anbieter der eingebetteten Inhalte als Drittanbieter diese Einwilligung verlangen [In diesem Zusammenhang können auch Nutzungsprofile (u.a. auf Basis von Cookie-IDs) gebildet und angereichert werden, auch außerhalb des EWR]. Indem du den Schalter auf „an“ stellst, stimmst du diesen (jederzeit widerruflich) zu. Dies umfasst auch deine Einwilligung in die Übermittlung bestimmter personenbezogener Daten in Drittländer, u.a. die USA, nach Art. 49 (1) (a) DSGVO. Mehr Informationen dazu findest du hier. Du kannst deine Einwilligung jederzeit über den Schalter und über Privatsphäre am Seitenende widerrufen.

Aber dann dreht es sich immer weiter als billig-blinkiges Karussell, fast wie ein Teufelskreis, aus dessen verführerischem Genuss keiner hinausfindet. Denn jeden Abend kann hier wieder ein aufgedonnerter Handschuhmacherin zum Star der Nacht werden. Oder wenigstens für drei wunderbar vergluckste Offenbach-Stunden lang. Als neue „La Vie parisienne“-Referenz.

Mehr aus dem Web
Neues aus der Redaktion
Auch interessant
Mehr zum Thema

Themen