Die versteckte Premiere: Stefan Herheims „Siegfried“ im ersten Ring-Zyklus der Deutschen Oper Berlin

Deutsche Oper Berlin/SIEGFRIED/Clay Hilley, Ya-Chung Huang/Foto @ Bernd Uhlig

Während andere Opernhäuser aufgrund der COVID-19-Pandemie zahlreiche ihrer Neuinszenierungen auf unbestimmte Zeit verschoben oder diese gar komplett gestrichen haben, hat die Deutsche Oper Berlin das Unmögliche vollbracht! Trotz zahlreicher Umbesetzungen, Terminverschiebungen, Sitzplatzbeschränkungen, Lockdowns und Corona-Quarantäne ist dem Opernhaus gelungen, was dem Zwerg Mime stets verwehrt geblieben ist: Sie haben ihren Ring neu geschmiedet! Der norwegische Regisseur Stefan Herheim inszeniert Richard Wagners 16-stündige Tetralogie „Der Ring des Nibelungen“, das Opus magnum der Opernliteratur, in anspruchsvoller, unterhaltsamer und gleichermaßen tiefgründiger Bühnenproduktion mit erlesener Premierenbesetzung. Die einzelnen Opern sind während der Pandemie in falscher Reihenfolge zur Premiere gebracht worden, begonnen wurde mit der „Walküre“ im September 2020, darauf folgte zu den ersten Lockerungen im Frühjahr 2021 der Vorabend „Das Rheingold“ und erst kürzlich, zur diesjährigen Spielzeiteröffnung, kam dieser „Herheim-Ring“ mit der „Götterdämmerung“ zu seinem Finale. Lediglich den dritten Abend, den „Siegfried“, konnte die Deutsche Oper Berlin in all der pandemiebedingten hektischen Umdisponierung nicht als singuläre Aufführungsserie realisieren. Und so kam dieser „Siegfried“ nun im Rahmen der ersten zyklischen Aufführung gänzlich unbemerkt zu seiner Premiere. Auch das Regieteam um Stefan Herheim sollte sich erst zwei Tage darauf bei der „Götterdämmerung“ den Publikumsreaktionen stellen. (Rezension der Vorstellung v. 12. November 2021)

 

 

Als größter Coup der Deutschen Oper Berlin ist die Besetzung der Titelrolle des Siegfrieds durch den US-Amerikaner Clay Hilley zu nennen. Er ist auf den europäischen Bühnen weitestgehend unbekannt. Mit der Rolle des Siegfrieds nahm er gleich die herausforderndste Tenorpartie der Opernliteratur an, welche weltweit nur etwa eine Hand voll Sänger mit Bravour bewältigen können. Hilley bewies, dass er einen von ihnen ist, denn er brachte alles mit, was es für einen Siegfried benötigt: Seine durchdringende jugendlich-helle Tenorstimme verband er mit deutlicher Aussprache und intelligenter, humorvoller Textgestaltung. Dabei blieb Hilley stets melodiös, stellenweise geradezu lyrisch, nie musste er einen Ton pressen und wusste jedes Schreien gekonnt zu vermeiden. Und wenn mal ein Spitzenton doch nicht ganz so kraftvoll saß, ließ der Tenor einfach seinen Charme spielen und lächelte sympathisch drüber hinweg – ein Sängerdarsteller par excellence, zurecht wurde er vom Publikum tosend bejubelt!

Deutsche Oper Berlin/SIEGFRIED/Clay Hilley /Foto @ Bernd Uhlig

Für den halbstündigen Schlussgesang stand dem Siegfried die größte dramatische Sopranistin der Gegenwart zu Seite, der Inbegriff einer „Brünnhilde“ schlechthin, die Schwedin Nina Stemme, welche glücklicherweise für sämtliche drei Abende des Zyklus als „Brünnhilde“ gewonnen werden konnte. Ihre Stimme klang gereift und nicht mehr so frei wie vor einigen Jahren, aber nach wie vor sind es ihre festen, voluminösen und markerschütternden Spitzentöne als „wild wütendes Weib“, die nicht nur Siegfried, sondern das gesamte Opernpublikum vor Ehrfurcht erstarren ließen und die sie zurecht auf den Thron der hochdramatischen Soprane heben.

Das Ensemblemitglied Ya-Chung Huang konnte in der Partie des Zwerg Mime all den Witz, die Ironie und die Gehässigkeit nicht nur stimmlich, sondern auch in Mimik und Gestik in einer Idealdarstellung verkörpern. Die Partie des Wotans wurde in diesem Ring-Zyklus auf mehrere Solisten verteilt, Iain Paterson gab im „Siegfried“ den Göttervater in seiner Funktion des Wanderers. Obgleich Paterson mit seiner raumausfüllenden, klangvollen Bassbaritonstimme all das Potential für die Partie mitbrachte, blieb sein Rollenporträt etwas eindimensional. Im Gegensatz zu den anderen Darstellern dieser Produktion (abgerundet wurde die Besetzung mit Judit Kutasi als Erda und Jordan Shanahan als Alberich) arbeitete Paterson zu wenig mit den Worten der Dichtung Wagners, erfasste seine Partie nur vordergründig und blieb so all der Tiefe und inneren Zerrissenheit der Figur des Wanderers in Ausdruck und Phrasierung schuldig. Ähnlich (leider) auch Sir Donald Runnicles am Pult des Orchesters der Deutschen Oper Berlin. Seine technische Einstudierung war perfektioniert, sämtliche Einsätze sind ihm gelungen und auch die Koordination zwischen Ensemble und Orchester war als vorbildlich zu bezeichnen –  und doch galt es unter seinem Dirigat die musikalische Vision zu missen. Während Herheim auf der Bühne das große Spektakel inszeniert, dirigierte Runnicles mehr als Begleiter und blieb, sich in Zurückhaltung wiegend, über längere Strecken schlichtweg zu leise. Die großen farbigen Klangorgien der Musik Richard Wagners sind unter seiner musikalischen Leitung leider nicht entstanden. Bitte für den nächsten Zyklus etwas mehr Feuer und Drama aus dem Orchestergraben!

Deutsche Oper Berlin/SIEGFRIED/Clay Hilley /Foto @ Bernd Uhlig

Und die Inszenierung von Stefan Herheim? Unser Kritiker hat es in den anderen Berichten schon vorweggenommen: Sie ist durchaus gelungen, wenn auch nicht konsequent zu Ende erzählt. Beispielsweiße bleibt das Schicksal der anfangs vorgestellten Geflüchteten offen, sie verschwinden im Siegfried plötzlich. Auch die Fragen um Macht und wer eigentlich die Geschicke der Welt bestimmt werden nur vordergründig thematisiert: Jene Figur des Rings, die am Klavier in die Tasten greift, bestimmt in diesem Moment die Handlung. Das Konzept funktioniert lediglich anfangs in der „Walküre“, über 16 Stunden verteilt ist es aber zu wenig Aussage und verkommt so mehr zur Dekoration als zu einer neuen Deutung.

Fazit: Am besten einfach selbst anschauen und sich eine eigene Meinung bilden! Langweilig wird es dank Stefan Herheims unzähliger Theaterkniffe und einem wahrlich ansehnlichen Bühnenbild sicherlich nicht. Im „Siegfried“ war es die Fafner-Szene, ein aus Koffern gebildeter Drache, der diesen Abend nachdrücklich in Erinnerung bleiben lassen wird. Und die Premierenbesetzung lieferte allerhöchsten Wagnergesang, ein Genuss für Ohr und Auge!

 

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