Wettkampf der Primadonnen: «Anna Bolena» in Zürich und Genf

Die zwei wichtigsten Schweizer Opernhäuser zeigen konkurrierende Neuproduktionen von Donizettis packender Tudor-Oper. Die beiden Inszenierungen sind stimmig, die Besetzungen erstklassig – aber wer hat die Nase vorn?

Thomas Schacher, Zürich/Genf
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Tödliche Konkurrenz: Starsopranistin Diana Damrau als Anna Bolena (rechts) mit Karine Deshayes als ihre Rivalin Giovanna di Seymour in Zürich.

Tödliche Konkurrenz: Starsopranistin Diana Damrau als Anna Bolena (rechts) mit Karine Deshayes als ihre Rivalin Giovanna di Seymour in Zürich.

Toni Sutter / Opernhaus Zürich

Anne Boleyn, die zweite der sechs Ehefrauen des englischen Königs Henry VIII., hat sich tief im kollektiven Gedächtnis eingeprägt: Ihre traurige Berühmtheit «verdankt» sie der Tatsache, dass der König sie hinrichten liess, da sie ihm keinen männlichen Thronfolger geboren hatte. Zahlreich sind die künstlerischen Auseinandersetzungen mit ihrem Schicksal, von der Malerei über die Literatur bis zum Kino. 1830 hat Gaetano Donizetti in Mailand seine Oper «Anna Bolena» herausgebracht. Das Libretto von Felice Romani setzt die Handlung im Todesjahr Annes, 1536, an und vermischt dabei Historisches mit freier Dichtung. Ausgeschmückt ist insbesondere die Figur des Lord Percy, dessen ehemalige Liebe zu Anne durch das Wiedersehen neu entflammt. Die Gestalt der Hofdame Jane Seymour hingegen, Annes Rivalin und Nachfolgerin als Königin, ist historisch verbürgt.

Nun fügt es der Zufall, dass «Anna Bolena» im Abstand von nur sechs Wochen an den zwei bedeutendsten Opernhäusern der Schweiz, dem Grand Théâtre de Genève und dem Opernhaus Zürich, in zwei voneinander unabhängigen Neuproduktionen gezeigt wird. Der recht unterschiedliche Charakter bei beiden Aufführungen lädt zu Vergleichen geradezu ein.

Zwei Tudor-Trilogien

In Genf siedeln die Regisseurin Mariame Clément und ihre Ausstatterin Julia Hansen das Bühnengeschehen grundsätzlich in der Zeit der Handlung an. Die Königin und ihre Hofdame, teilweise auch der König, tragen Gewänder, die von den einschlägigen Porträts von Hans Holbein dem Jüngeren inspiriert sind. Über die historische stülpt sich jedoch eine schwer zu deutende phantastische Schicht, die das Geschehen weitet und in eine imaginäre Zukunft trägt.

Von Albträumen geplagt: Elsa Dreisig (rechts) als Anna Bolena mit einer kindlichen Doppelgängerin in Genf.

Von Albträumen geplagt: Elsa Dreisig (rechts) als Anna Bolena mit einer kindlichen Doppelgängerin in Genf.

Monika Rittershaus / GTG

Die Bühne zeigt auf einem drehbaren Würfel ein Interieur, das nach allen Seiten hin offen ist und den Blick auf allerlei naturhafte und surreale Gestalten freigibt. Eine freie Erfindung ist die stumme Rolle der Elisabeth, der Tochter Annes und Henrys, die als Mädchen und als spätere Königin allgegenwärtig ist. Damit will das Regieteam den Boden bereiten für die Fortsetzung von Donizettis Tudor-Trilogie mit «Maria Stuarda» und «Roberto Devereux», die in Genf für die kommenden Spielzeiten geplant ist.

Auch in Zürich wird die ganze Tudor-Trilogie gezeigt, aber verteilt auf verschiedene Jahre. Nach «Maria Stuarda» in der Spielzeit 2017/18 präsentieren der Regisseur David Alden und der Ausstatter Gideon Davey nun (übrigens in falscher historischer Reihenfolge) «Anna Bolena» als zweite Arbeit. Auch sie beide schaffen den Bezug der beiden Opern dadurch, dass sie das Mädchen Elisabeth, allerdings weniger aufdringlich, als stumme Rolle einfügen. Die Zürcher Inszenierung zeichnet sich, noch stärker als diejenige in Genf, durch einen postmodernen, mehrschichtigen Charakter aus. Und trotzdem ist sie schlüssiger.

Eine graue Steinmauer an der Bühnenrückwand deutet den Tower of London an, wo Anna enthauptet wird: ein Gefängnis, dem aber auch alle anderen Figuren nicht entfliehen können. Das Geschehen pendelt zwischen Historischem und Zeitlosem, Konkretem und Abstraktem, Ernst und – was bei der Tragik der Handlung überrascht – Ironie.

Sängerkriege

Wer die Titelrolle von «Anna Bolena» singt, setzt sich dem Vergleich mit den ganz grossen Darstellerinnen aus. Seit der Wiederentdeckung der Oper in den 1950er Jahren waren dies etwa Maria Callas, Montserrat Caballé, Joan Sutherland, Edita Gruberová und auch Anna Netrebko. Die französisch-dänische Sopranistin Elsa Dreisig, die in Genf die Anna Bolena singt, kommt an solche Grössen noch nicht heran. Die erst dreissig Jahre junge Sängerin, die ihr Rollendebüt gibt, gefällt zwar mit der Frische und Natürlichkeit der Darstellung, vermag aber die Finessen des Belcanto und die Zerrissenheit der Rolle nicht genügend darzustellen. Von ganz anderem Kaliber ist die opernerfahrene Mezzosopranistin Stéphanie d’Oustrac als Giovanna Seymour, die man gerne selber in der Titelrolle gesehen hätte. Internationales Renommee geniesst auch Alex Esposito als König Enrico, der sich als rücksichtsloser Machtmensch mit imposanter Stimme präsentiert.

In Zürich ist es Diana Damrau, auch sie mit einem Rollendebüt, die Aldens Inszenierung ihren Stempel aufdrückt. Was die Sängerin, die zu den ganz Grossen ihres Fachs gehört, bei der Premiere an gesanglichen Subtilitäten und darstellerischer Kraft bietet, kann gar nicht mit Worten beschrieben werden. Besonders deutlich treten Damraus Qualitäten im legendären Duett mit ihrer Rivalin Giovanna zutage. Da fällt der Mezzosopran von Karine Deshayes, deren Stimme im Forte fast immer schrill klingt, erbarmungslos ab. Der Tenor Alexei Neklyudov gibt Lord Percy, den abgewiesenen Liebhaber Annas, als leidenschaftlichen, verzweifelten Menschen. Luca Pisaroni mimt, im Vergleich mit dem Genfer Enrico, einen König, der noch triebgesteuerter wirkt. Eine erfrischende Note steuert Nadezhda Karyazina in der Hosenrolle des in Anna verliebten Pagen Smeton bei. Und in der Figur von Annas Bruder Lord Rochefort (Stanislav Vorobyov) deutet der Regisseur etwas unmotiviert ein inzestuöses Begehren an.

Haltung bis zum Schluss: Diana Damrau in der Schlussszene der Zürcher «Anna Bolena».

Haltung bis zum Schluss: Diana Damrau in der Schlussszene der Zürcher «Anna Bolena».

Toni Sutter / Opernhaus Zürich

Im Grand Théâtre spielt das Orchestre de la Suisse Romande unter der Leitung von Stefano Montanari. Der ausgewiesene Mozart- und Rossini-Spezialist koordiniert ausgezeichnet, verleiht dem Sängerensemble Flügel und lässt das Orchester mit den Protagonisten atmen. Montanari bevorzugt einen durchsichtigen, manchmal sogar zarten Orchesterklang, der aber an den dramatischen Stellen mächtig anschwellen kann. Als Tribut an die historische Aufführungspraxis werden in den Rezitativen und an einigen ausdrucksvollen Stellen Cembalo und Fortepiano eingesetzt.

In Zürich begeistert der Belcanto-Spezialist Enrique Mazzola auch bei seiner mittlerweile sechsten Produktion mit einem unverwechselbaren Stil. Sein Markenzeichen ist die philologisch begründete Interpretation, die auf dem originalen Notentext Donizettis beruht. Damit liegt Mazzola recht nahe bei Montanari. Kein Zufall, denn beide Dirigenten gehören einer Generation an, welche die Partituren von den teilweise fragwürdigen Gepflogenheiten der Aufführungstradition befreien. Das Resultat ist in beiden Fällen beeindruckend.

Anna büsst den fiktiven Ehebruch, der dem König als Vorwand dient, mit dem Tod. In beiden Inszenierungen ist Enrico in der Enthauptungsszene nicht mehr auf der Bühne. Wenn aus dem Off die ominöse Marschmusik erklingt, starren in Genf alle Figuren in die entsprechende Richtung: dahin, wo sie die Hochzeit des Königs mit Gattin Nummer drei vermuten. In Zürich erscheint Giovanna Seymour nach der Marschmusik überraschend im Kerker, im vollen Brautschmuck, aber todunglücklich. Sie hat ihr Ziel erreicht – nur wie.

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