Wolfgang Rihms Jakob Lenz, uraufgeführt 1979, gehört heute zu einer der am häufigsten gespielten Kammeropern der letzten Jahrzehnte – wohl nicht zuletzt, weil das Schicksal ihres tragischen Helden des Sturm und Drang auch heute noch zutiefst berührt und fesselt. Das Libretto von Michael Fröhling entstand frei nach Georg Büchners Erzählung Lenz, welche den Aufenthalt des Dichters beim Pfarrer Oberlin in den Vogesen beschreibt und unheimliches Zeugnis seiner voranschreitenden Krankheit bietet.

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Jakob Lenz
© Christian Kleiner

Das Leben von Jakob Michael Reinhold Lenz war geprägt von Zurückweisung, unerwiderter Liebe, familiärer Brüche und einem frühen Tod des Dichters, während in der Oper besonders seine sich steigernde Schizophrenie und Angstzustände thematisiert werden. Rihm sah das Sujet als „Zustandsbeschreibung innerhalb eines Zerfallsprozesses“ und gestaltete nach eigenen Worten „die Hauptperson selbst als vielschichtige Handlungsebene“. Die dreizehn Bilder der Kammeroper werden zu einer Art Kreuzweg an dessen Ende nicht der Tod, vielmehr Indifferenz und gar Akzeptanz des Dichters gegenüber dem eigenen Leben und seiner Krankheit stehen.

Lenz ist ein Getriebener, von unheimlichen, missgünstigen Stimmen verfolgt, flüchtet er sich durch eine karge winterliche Gebirgslandschaft, der das Geisterhafte der romantisch verklärten Naturgewalten innewohnt. Die raue, schroffe Natur, die nichts verzeiht wird hier symbolhaft für seine geistige Verfassung. Des Lebens überdrüssig und durch die Stimmen an den Rand des Wahnsinns getrieben, geht ihm das Gefühl für Raum und Zeit abhanden. Selbst die Stille scheint ihn anzuschreien und die kaputte Welt, in der er sich bewegt, spiegelt seine eigene innere Gefühlswelt, seine Depression und die innere Zerrissenheit.

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Joachim Goltz (Jakob Lenz) und Josefin Feiler
© Christian Kleiner

„Jetzt ist es mir so eng, […] es ist mir manchmal, als stieß, ich mit den Händen an den Himmel; o ich ersticke!“ In Büchners Erzählung und Rihms Oper gleichermaßen, übernimmt die realitätsferne gestörte Wahrnehmung immer mehr und seine Schizophrenie schreitet weiter voran. Tagsüber scheint sein Dasein einigermaßen erträglich, doch nachts überkommen ihn gesteigerte Angstzustände, die in Apathie, geistige Indifferenz und schließlich Resignation gipfeln.

Der katalanische Regisseur Calixto Bieito, der den Dichter Lenz bereits in seiner Jugend verehrt hat, in ihm einen Helden seiner Adoleszenz sieht, arbeitet mit seiner bekannten und erprobten Ästhetik, die zielgerichtet, direkt und verständlich ist. Seine Symbolik ist mystifizierend, aber trifft stets ins Schwarze. Die psychische Last, symbolisiert durch die Steine in Lenzens Rucksack, oder der dichte Wald als Analogie zu seinem wirren Gedanken, sind starke Bilder, die Bieito als Meister seines Handwerks kennzeichnen.

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Joachim Goltz (Jakob Lenz)
© Christian Kleiner

Statt des romantisch verklärten Waldes gestaltet Bühnenbildnerin Anna-Sofia Kirsch für die Inszenierung am Nationaltheater Mannheim einen klinisch weißen Raum, in dem der karge Wald – vielmehr nur ein paar kahle Bäume – strikt eingegrenzt ist. Inmitten dessen wurden die elf Musiker*innen des Kammerorchesters platziert.

Der anfänglich so kühle Raum wird von den Darsteller*innen und Bieitos Ideen sogleich belebt und gefüllt. Jakob Lenz kommt wie auf der Flucht durch eine der Türen ins Auditorium gestürmt und rennt auf die Bühne als wäre der Leibhaftige hinter ihm her. Dargestellt von Joachim Goltz mit agil kraftvoller Baritonstimme gibt er stets alles, ist immer aufgedreht, was leider etwas leisere und zurückgenommene Zwischentöne vermissen lässt. Goltz vereinnahmt die gesamte Oper – er singt um sein Leben, schlägt um sich, kasteit sich selbst – immer auf Augenhöhe mit seinem eigenen Wahnsinn. Bei seinen Mitmenschen trifft dieses Verhalten jedoch auf Unverständnis und Hilflosigkeit. Pfarrer Oberlin (souverän gesungen vom Bass Patrick Zielke) ist gravierend in seiner Passivität und auch der befreundete Kaufmann, von Raphael Wittmer mit markanter Tenorstimme dargestellt, kann zwar bedingt mitfühlen aber nicht helfen.

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Joachim Goltz (Jakob Lenz) und Patrick Zielke (Pastor Oberlin)
© Christian Kleiner

Franck Ollu dirigierte das Orchester des Nationaltheaters Mannheim in Kammerfassung mit ungewöhnlicher Besetzung – wenig Streicher, dafür mit Holz- und Blechbläsern, Cembalo und Schlagzeug. Mit besonderem Gespür für die Thematik und die künstlerische Umsetzung geriet sein Dirigat überaus präzise und atmosphärisch, sich oft zwischen düster wabernder Subtilität und messerscharfer Klarheit bewegend.

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Jakob Lenz
© Christian Kleiner

Jakob Lenz wurde am 4. Juni 1792 in Moskau tot auf der Straße aufgefunden und auf Kosten eines Gönners begraben: „Von Wenigen betrauert und von Keinem vermißt“ formulierte es sein Nachruf. In Rihms Oper hingegen lebt ein Teil seines künstlerischen Erbes weiter und so auch der Wunsch, die so zerrissene, tragische Figur auf eindringliche und berührende Weise begreiflich zu machen. Calixto Bieito ist dies mit seiner Inszenierung voll und ganz gelungen.

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