Menschliche Körperteile an einem Baum im Schnee hängend, dahinter ein Wohnwagen – herzlich willkommen, aber nicht im ersten Aufzug einer irren Walküre-Inszenierung oder dritten Bild einer irreren Bohème, sondern in Martin Kušejs Versuch über Tosca am Theater an der Wien. Vergessen wir für einen Abend das sommerliche Rom von 1800 und alles, was wir mit Puccinis Diven-Drama assoziieren.

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Jonathan Tetelman (Mario Cavaradossi)
© Monika Rittershaus

Denn „Alles anders“ ist Kušejs konsequent umgesetztes (Lebens-)Motto als Regisseur, und in seiner schneehellen Sicht auf das Dunkle an Tosca lässt er sich durch das Libretto nicht einschränken. Die Zusammenlegung der Figuren des Mesners (im Schamanen-Oufit) und des Gefängnis-Schließers zu einer Art Superschurken-Sciarrone kann man hinnehmen, und wem ein Kopfschuss-Killer reicht, wird Cavaradossis Hinrichtungskommando nicht vermissen.

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Kristine Opolais (Floria Tosca) und Jonathan Tetelman (Mario Cavaradossi)
© Monika Rittershaus

Interessant zudem die Idee, die mysteriöse Gräfin Attavanti (den Grund von Toscas Eifersucht) zu zeigen, auch wenn man zunächst nur ahnt, warum sie im ersten Akt von Scarpias Schergen gekidnappt wird. Es sind aber genau diese Fragezeichen, welche dieser ansonsten grob-plakativen und brutal-hässlichen Inszenierung einen perversen Reiz verleihen – zumindest, wenn man Spaß am Rätseln hat. Dass das nicht die Mehrheit ist, merkte man an den heftigen Buhs nach Schluss, die der provokationsfreudige Burgtheaterdirektor geradezu dankbar annahm.

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Kristine Opolais (Floria Tosca)
© Monika Rittershaus

Das Beste, das man über diese Regiearbeit sagen kann, ist das erregt-atemlose Tempo (keine Pause!), und dass der zweite Akt besonders packend aufgebaut ist, da Scarpias Darlegung seiner Weltsicht (er will Frauen überwältigen, nicht zärtlich erobern) eine Stimmung wie Jagos Bekenntnis („Credo“) erzeugt, Cavaradossis leidenschaftlichem „Nego“ (Ich leugne) diametral entgegengesetzt ist. Den Höhepunkt bildet naturgemäß Scarpias Konfrontation mit Tosca, die vom Regisseur als „sich prostituierende Darstellerin/Sängerin/Spielerin“ in einer gewalttätigen Männergesellschaft gesehen wird, und dementsprechend edel-nuttig gezeichnet ist. Konsequenterweise ist es für sie eine Option, vor Scarpia die Beine zu spreizen: Hält sie Angriff für die beste Verteidigung oder findet sie masochistisches Gefallen an Scarpia? Hat sie das Stockholm-Syndrom? Noch mehr Überlegungen kann man darüber anstellen, warum Scarpia bei dem Spiel nicht mitmacht und den Gürtel, den ihm Tosca schon geöffnet hat, wieder schließt – die nüchterne ist, dass man inszenierungstechnisch zur „Preisverhandlung“ und zum Schreiben des Passierscheins abbiegen muss.

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Kristine Opolais (Floria Tosca) und Jonathan Tetelman (Mario Cavaradossi)
© Monika Rittershaus

Dieses Kammerspiel erfährt zusätzliche Verdichtung dadurch, dass der Aktionsradius in Scarpias Wohnwagen (szenisch bleibt man bei verschiedenen Ansichten des ersten Bildes) eng gesteckt ist, und das tödliche Messer ganz offen auf einem Stuhl liegt, sodass die Figuren metaphorisch einen Tanz darum machen, bevor es zum Einsatz kommt. Dieser findet erst statt, nachdem die Gräfin Attavanti einen Kurzauftritt hat, um ein wenig mit Scarpia zu knutschen. Denkt man sich diese Figur als fleischgewordene Eifersucht Toscas, so fallen letztendlich sowohl Scarpia als auch Tosca dieser zum Opfer: Scarpia durch sein Spiel mit dieser Eifersucht, und Tosca, weil ihr Kušej eine Erschießung durch die Attavanti zugedacht hat (man hätte diese Schnee-Tosca mit der fehlende Lawine von La Wally beenden können, aber das war wohl zu wenig gewalttätig).

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Gábor Bretz (Scarpia) und Kristine Opolais (Floria Tosca)
© Monika Rittershaus

Kristine Opolais meistert Kušejs darstellerische Herausforderungen (man möchte sagen: Zumutungen) ganz grandios, auch wenn ihr andere Partien stimmlich besser liegen und für „Vissi d'arte“ der ganz lange Atem fehlt. Die Lieblingspartie des Regisseurs scheint allerdings Scarpia zu sein, und Gábor Bretz gibt ihn trotz seiner offensichtlichen Grausamkeit so elegant, dass man an Mr. Big im Country Club denkt (soll sein cremefarbener Zopfpulli, den sich Tosca nach seiner Ermordung über die Reizwäsche zieht, die sprichwörtliche weiße Weste symbolisieren?). Elegant auch die gesangliche Darbietung, abgerundet mit versteckter Dämonie. Sciarrone und Spoletta (Rafał Pawnuk und Andrew Morstein) schafften es, ihre eindimensionalen Schurkenrollen lebendig zu gestalten zu singen. Sie hatten es aber auch wesentlich einfacher als der ebenfalls tadellose Ivan Zinoviev, der als Cesare Angelotti blutverschmiert im Schnee herumirren musst.

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Kristine Opolais (Floria Tosca)
© Monika Rittershaus

Mit Spannung erwartet wurde eine neue Tenor-Hoffnung, und tatsächlich bringt Jonathan Tetelmann über die für Cavaradossi geforderte strahlkräftige Stimme mit. Allerdings hätte er an einigen Stellen weit weniger Gas geben müssen, da seine Stimme zwar nicht übergroß ist, aber weit trägt – das ist zumindest der Eindruck, den man an diesem doch relativ kleinen Haus bekommt. Rührend gerieten jene paar Zeilen, die ansonsten einem Hirtenjungen bzw. Knabensopran zufallen. Szenenapplaus für „E lucevan le stelle“ wäre verdient gewesen, doch wurde das in dieser Inszenierung zumindest nicht gefördert.

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Jonathan Tetelman (Mario Cavaradossi) und Rafał Pawnuk
© Monika Rittershaus

Am Pult stand Marc Albrecht, der kurzfristig für den erkrankten Ingo Metzmacher eingesprungen war. Man hörte Kompetenz und viel Transparenz, allerdings auch – in völliger Kongruenz mit dem Regieansatz – eine Betonung der dunkleren Elemente der Partitur. Wunderschön gelang die Einleitung zum dritten Akt, in dem recht langsam und wehmütig die verschiedenen zuvor gehörten Motive rekapituliert wurden. Ein Bravo speziell für die Cellisten des Radio-Symphonieorchesters Wien, die ihr Quartett wunderbar abgestimmt hatten. Mit glasklarer Diktion und Linienführung überzeugte der Arnold Schoenberg Chor, dem in dieser Inszenierung jedoch kein großer Auftritt vergönnt war.

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Kristine Opolais (Floria Tosca) und Sophie Aujesky (Gräfin Attavanti)
© Monika Rittershaus

Fazit: Geht man den Abend praktisch an, wird man feststellen, dass eine gewalttätige, kunst- und religionsbefreite Tosca nicht sinnbefreit sein muss. Emotional an sich heranlassen wird man sie nicht wollen.

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