Anne Sofie von Otter singt Schubert und stellt ihn zugleich dar. Dabei behält die Traurigkeit nicht das letzte Wort – zum Glück

Sie ist auch noch mit 66 Jahren eine Meisterin des Liedgesangs. Mit dem Pianisten Kristian Bezuidenhout begibt sich Anne Sofie von Otter jetzt in Basel auf eine poetische Reise durch die Welt Franz Schuberts. Der dichte Abend nimmt eine überraschende Wendung.

Christian Wildhagen, Basel
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Draussen ist schon Eiszeit, drinnen singt man noch: Anne Sofie von Otter (vorne links) und Mitglieder des Basler Ensembles in «Eine Winterreise» nach Liedern von Franz Schubert.

Draussen ist schon Eiszeit, drinnen singt man noch: Anne Sofie von Otter (vorne links) und Mitglieder des Basler Ensembles in «Eine Winterreise» nach Liedern von Franz Schubert.

Monika Rittershaus /
Theater Basel

Der Pianist macht das Licht an. Seit Settembrini in Thomas Manns «Zauberberg» diese kleine, folgenreiche Bewegung zum Symbol der gesamten Aufklärung erhoben hat, ist das keine harmlose Geste mehr, auf dem Theater ohnehin nicht. Aber Kristian Bezuidenhout tut auch sonst gut daran, hier einfach etwas Licht ins Dunkel zu bringen, während er sich mit seinen Notenblättern zum Hammerflügel in der Ecke vorantastet. Der holzvertäfelte Raum, den der Ausstatter Herbert Murauer auf die Bühne des Basler Theaters gewuchtet hat, ist nämlich nicht bloss finster – es riecht hier buchstäblich nach Verfall, nach alten Geschichten, nach Vergangenheit.

Es ist ein Ballsaal aus der Schubert-Zeit, misshandeltes, ausgeweidetes Biedermeier. Lange her, denkt man – doch dann kommt sie: Anne Sofie von Otter, die weltweit gefeierte Mezzosopranistin, und es wird noch ein bisschen heller im Saal. Im wehenden Mantel, mit weissen, zum Zopf gebundenen Haaren verkörpert sie Franz Schubert selbst an diesem Abend. Einen Schubert allerdings, der nicht so sträflich jung mit nur 31 Jahren gestorben ist; der vielmehr im Alter noch Rückschau halten kann auf sein Leben, Lieben und Leiden. Von Otter begibt sich dafür auf «Eine Winterreise», so der Titel – es wird eine dichte, stellenweise bedrängend intensive Seelenschau anhand der allerschönsten unter Schuberts sechshundert Liedern.

Liebesreigen

Anders als der Titel vermuten lässt, bietet die Basler Produktion keine szenische Bearbeitung von Schuberts gleichnamigem letztem Liederzyklus – einige zentrale Stücke daraus wie «Frühlingstraum» und «Der Lindenbaum» (ein weiterer «Zauberberg»-Moment) sind trotzdem wie selbstverständlich in die Programmfolge eingebunden. Stattdessen skizziert der Regisseur Christof Loy Schuberts kurzes, wohl von der Syphilis dahingerafftes Leben in Schlüsselmomenten; doch keineswegs platt und plan als Biopic, das Ganze ist feiner, poetischer und dabei stets assoziativ offen gehalten.

So kann man etwa in den vier jungen Menschen, die neben Anne Sofie von Otter auf der Bühne herumspringen, Freunde, Partner, Liebschaften des Komponisten erblicken. Vielleicht ist der eine (der Schauspieler Nicolas Franciscus) ein jugendlicher Doppelgänger Schuberts, der noch staunend und voller Sehnsucht durchs Leben geht und in dem bemerkenswerten Textfragment «Mein Traum» aus dem Jahr 1822 – Kafka und Freud um ein Jahrhundert vorwegnehmend – von verschmähter Vaterliebe erzählt. Die Begegnung mit seinem Alter Ego, natürlich zur späten Heine-Vertonung «Der Doppelgänger» aus dem «Schwanengesang», ist einer der vielen magischen Augenblicke des Abends.

Ein anderer unter den jungen Leuten ist vielleicht jener Franz von Schober (der Tänzer Kristian Alm), der seinen Mitbewohner in Wien zum ausschweifenden Leben verführt haben soll. Und eine Dritte ist vielleicht jene Prostituierte (die Tänzerin Matilda Gustafsson), bei der sich Schubert die todbringende Krankheit geholt haben könnte. Genaueres wissen und sehen wir nicht, denn Loy und von Otter halten es subtil in der Schwebe, ob der munter kreisende Liebesreigen auf der Seitenbühne wirklich etwas mit Schubert zu tun hat – oder ob der alt gewordene Komponist hier bloss wie durchs imaginäre Fenster auf eine Welt blickt, deren Treiben ihm fern gerückt ist.

Ironische Wendung

So oder so liegt ein Schleier der Melancholie über dem gesamten Abend. Das hat mit der merklich gereiften Stimme der Sängerin zu tun, die allerdings auch noch mit 66 Jahren ihr skandinavisch klares Timbre besitzt und im symbiotischen Zusammenwirken mit dem Originalklang-Experten Bezuidenhout ihren ungebrochenen Gestaltungszauber entfalten kann. Der Trauerflor hat womöglich aber auch, ganz real, mit dem Schicksalsschlag zu tun, der die Künstlerin 2018 traf, als sich ihr Mann, ein Theaterleiter in Stockholm, nach (unterdessen widerlegten) #MeToo-Anschuldigungen das Leben nahm.

Dergleichen ist zu privat, als dass man darüber spekulieren dürfte. Und das Schlussstück aus der «Schönen Müllerin», dieses verstörend betörende Wiegenlied des Baches auf den Müllerburschen, der sich soeben in seinen Fluten ertränkt hat – man kann es ohnehin nie ohne tiefere Beklommenheit hören. Anne Sofie von Otter aber lässt der Traurigkeit nicht das letzte Wort, zum Glück.

In einer atemberaubenden Wendung ins Komödiantische tritt sie aus der Komponistenrolle, wandelt sich zum launigen Conférencier und rezitiert den nicht vertonten Epilog, mit dem Schuberts Textdichter Wilhelm Müller das ganze Liebes- und Lebenselend ins Ironisch-Doppelbödige gewendet hat: «Aus solchem hohlen Wasserorgelschall / Zieht jeder selbst sich besser die Moral. . . / So hab’ ich denn nichts lieber hier zu tun, / Als euch zum Schluss zu wünschen, wohl zu ruhn. / Wir blasen unsre Sonn’ und Sternlein aus, / Nun findet euch im Dunkel gut nach Haus!» Sagt’s, lächelt – und macht das Licht wieder aus.

Weitere Aufführungen bis zum 27. Februar, Theater Basel.

Mehr von Christian Wildhagen (wdh)

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