Welt im Zerfall: „Le Nozze di Figaro“ in der Staatsoper Hannover

Staatsoper Hannover/Le Nozze di Figaro/Foto © Sandra Then

„Le Nozze di Figaro“ in der Staatsoper Hannover beginnt dort, wo Mozarts Oper normalerweise endet. Die Charaktere stehen auf der Bühne vor einem schwarzen Vorhang, fein säuberlich geordnet nach Rang und Stellung, wie es die gesellschaftliche Norm der Zeit vorschreibt. Gemeinsam singen sie einen Auszug aus dem Finale noch bevor die eigentliche Ouvertüre beginnt. Doch was auf den ersten Blick wie ein Happy End – oder, wie in diesem Fall, ein glücklicher Beginn – erscheint, ist reine Fassade. Im Laufe des Stückes wird sie Risse bekommen, die nicht mehr zu überdecken sind. Regisseurin Lydia Steier und ihr Team zeigen in der Neuinszenierung, dass „Die Hochzeit des Figaro“ viel mehr als eine seichte Unterhaltung ist. Sie finden die Tragödie in der Komödie. So gelingt ihnen eine berührend-aufwühlende wie auch spannend-nachdenklich stimmende Neuinterpretation des Stückes. (Besuchte Vorstellung am 29.01.2022)

 

Mozarts Oper, das Libretto stammt von Lorenzo da Ponte, basiert auf dem Theaterstück „La folle journée ou Le mariage de Figaro“ von Pierre-Augustin Caron de Beaumarchais. Am Vorabend der französischen Revolution in Frankreich geschrieben, kommt es alsbald nach Wien. Die Aufführung wird jedoch untersagt, allzu offensichtlich kritisiert Beaumarchais die damals herrschende Gesellschaftsordnung. Mozart und Da Ponte entschärfen die offensichtliche Kritik des Stückes und verlagern den politischen Konflikt auf die zwischenmenschliche Ebene. Der Adel ist gewohnt sich zu nehmen was er haben will – und so ist in Steiers Inszenierung keine Frau vor dem Grafen sicher. Mehr als eine Bedienstete schiebt eine Kugel der Frucht der Macht des Grafen vor sich her.

Staatsoper Hannover/Le Nozze di Figaro/Foto © Sandra Then

Doch schnell wird klar, dass die dargestellte Welt eine Gesellschaft im Zerfall ist. Das Bühnenbild von Momme Hinrichs zeigt einen Palast, der seine prachtvollsten Tage schon lange hinter sich hat. Die Möbel sind abgestoßen, die Wandbespannungen verblasst. Auch die Kostüme und Perücken (Alfred Meyerhofer) sind so opulent wie abgewrackt. Ihre Gestrigkeit quillt aus allen Rissen, der Muff absolutistischer Herrschaft klafft aus jeder Ritze. Es ist eine Welt, deren Wandel nicht mehr aufzuhalten ist. Drei Jahre nach der Uraufführung von „Le Nozze di Figaro“ in Wien stürmen die Bürger von Paris die Bastille. Diese gesellschaftliche und politische Dimension stellt Steier bei ihrer Inszenierung in den Mittelpunkt. So wird Figaro zum Revolutionsführer und der Graf zur tragischen Figur.

Was ist es, dass ein System zum Umsturz bringt? Die Unzufriedenheit der Menschen, die Überholtheit einer Gesellschaftsordnung? Die Regisseurin zeichnet Figaro als einen Aufrührer ohne Ideale, einen Revolutionär des Revolutionierens wegen. „Figaro ist hier Robespierre oder Lenin: Jemand, der eine Revolution anstiften möchte, egal um welchen Preis“, sagt Steier. Figaro wird aus seiner persönlichen Unzufriedenheit heraus zu einem Brandstifter. Massenweise scharrt er die Menschen hinter sich, genießt es, sie aufzustacheln und ihr Anführer zu sein – doch eine Vision wohin der Weg führen soll, hat er nicht. Ein überaus spannender Ansatz, doch leider blieb die Darstellung des opportunistischen Figaros durch Richard Walshe an diesem Abend an einigen Stellen hinter den fraglos hohen Ansprüchen zurück. Stimmlich kleidete er seine Rolle jedoch gut aus.

Figaro gegenüber steht Graf Almaviva, verkörpert von Germán Olvera. Zu Beginn ein Mann, dem die Macht zu Kopf – oder wahlweise in sein bestes Stück – gestiegen ist, verleiht Steier dem Charakter ungeahnte emotionale Tiefen. Besonders stark wird die darstellerische Leistung Olveras in der zweiten Hälfte des Abends. Plötzlich reißt die sorgsam gepflegte Fassade ein und die Zuschauer:innen erhalten einen Blick auf den Menschen dahinter. Der Graf ist sensibel, unzufrieden in der Situation und letztlich genauso im System gefangen wie seine Untergebenen. Die Beziehung zu seiner Frau ist schon lange erkaltet, seine Untertanen huldigen lieber einem überlebensgroßen Portrait eines Vorfahrens und sobald er den Raum verlässt, tanzen sie auf seinen Tischen und Stühlen.

Staatsoper Hannover/Le Nozze di Figaro/Nina v. Essen, Kiandra Howarth/Foto © Sandra Then

Auch wenn „Le Nozze di Figaro“ in Hannover insgesamt eine tolle Ensembleleistung unter musikalischer Leitung von Giulio Cilona – sein Mozart war flott und licht – war, so stachen neben Olveras Graf Almaviva vor allem die Frauen heraus; sowohl sängerisch als auch schauspielerisch. Erzählt wird die Geschichte über weite Strecken durch die Augen Susannas. Sie ist allwissend, mitfühlend, die am wenigsten Korrupte in einem korrupten System. Nikki Treurniets Susanna ist genauso stark wie zerbrechlich, ihre Stimme wunderbar wandlungsfähig und bewegend emotional. Von mädchenhaft unschuldig bis loyal und gelegentlich gehässig, zeigte die Darstellung eine ungeheure Bandbreite.

Kiandra Howarth als Gräfin im Stile einer „Lasst sie Kuchen essen“-Marie Antoinette in pastellen Kleidern, die an die Ästhetik der Verfilmungen von Sofia Coppola erinnert, zeigte ein unglaubliches Gespür für Komik des Momentes. Die meiste Zeit der Inszenierung verbringt sie im Bett, gelangweilt vom Leben und kurz vor der Ohnmacht. Stets an ihrer Seite: Zwei Nonnen und Susanna, die ihr jeden Wunsch von den Augen ablesen und doch baut sie keine menschliche Bindung zu ihnen auf. Howarths Stimme blieb dabei stets ungemein ausdrucksfähig, von lyrisch bis dramatisch wie es der Moment erforderte.

Eine wunderbare Spielfreude ohne Hang zur Überzeichnung zeigte auch Nina van Essen als Cherubino. Gesanglich stand sie ihren Kolleginnen dabei ihn nichts nach und gestaltete ihre Rolle mal weich, mal unsicher, mal jugendlich überschwänglich.

Staatsoper Hannover/Sarah Brady/Le Nozze di Figaro/Foto © Sandra Then

Im vierten und finalen Akt gibt Lydia Steier der Oper eine neue interessante Wendung: Ganz ehrlich entdecken Susanna und der Graf in einer Welt, die nur Berechnung kennt, wahre Gefühle füreinander. Sie singt ihre Arie in seinen Armen. Mit gepackten Koffern wollen die beiden gemeinsam ihrem bisherigen Leben entfliehen, eine neue Existenz abseits der alten gesellschaftlichen Ordnung beginnen. Doch werden sie von der Realität eingeholt. Politischer Hass vermischt sich mit persönlichem und Figaro lässt den Grafen von seinen aufrührerischen Mitstreitern verprügeln. Blutüberströmt betritt dieser wieder die Bühne, er fühlt sich von Susanna verraten. Hysterisches weinen und lachen vermischen sich, als er die Absurdität und Aussichtslosigkeit der Situation erkennt. Sarkastisch bittet er die Gräfin um Entschuldigung, doch alle wissen, dass nichts mehr so sein wird wie zuvor.

Am Ende von Lydia Steiers Inszenierung steht die Welt in Flammen und nichts ist übrig von der feinsäuberlichen Ordnung zu Beginn des Abends. Im Hintergrund brennt das Schloss lichterloh und die Bevölkerung plündert, was noch übrig ist. Es gibt kein Happy End für niemanden. An seine Stelle ist ein wütender Drang nach geistiger Brandstiftung getreten, der im Gemetzel endet. Ein Phänomen, das aktueller nicht sein könnte.

 

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