Der Märchenwald ist abgebrannt. Regisseur Axel Ranisch hat Hänsel und Gretel, der Märchenoper, jede Romantik an der Staatsoper Stuttgart ausgetrieben. Während des Vorspiels ist noch ein kurzer Blick in einen grünen Wald erlaubt, doch dann schwebt die Videocamera langsam über die Landschaft, die Bäume werden immer kahler, Tiere ergreifen die Flucht, bis nur noch abgebrannte Stümpfe zu sehen sind und züngelnde Flammen am Horizont. Auch von der „kleinen dürftigen Stube”  von Hänsel und Gretel sind nur noch ein paar Bauteile übriggeblieben, in denen die Kinder vor verkohlten Baumstämmen allerdings munter herumtanzen, fröhliche Lieder singen und auch ziemlich manierlich gekleidet sind – ab jetzt ist dieses Bild ganz konventionell inszeniert. Ein eigentlich normales Leben in solch dystopischer Welt? Irgendwo ist da ein Widerspruch, der auch die ganze Aufführung über nicht aufgelöst wird.

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Shigeo Ishino (Vater) und Catriona Smith (Mutter)
© Matthias Baus

Denn Ranisch hat ein Konzept: Seine Botschaft sind Klimawandel und Umweltzerstörung. Was allerdings diese Idee für die Interpretation gerade dieser Oper hergibt, bleibt offen. Die grundsätzliche Lebensfreude, die trotz der Armut (die szenisch überhaupt nicht thematisiert wird) diese Märchenoper durchzieht, wird nicht hinterfragt oder aufgebrochen. Es bleibt lediglich bei der Kulisse, womit der Regisseur die Geschichte neu erzählen möchte – oder wie er es im Programmheft treffend selber formuliert: Du musst „die Geschichte mit dem aufpeppen, was dir wichtig ist.” Für's „Aufpeppen” aber erscheint die Frage nach der Zukunft unseres Planeten denn doch zu wesentlich.

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Josefin Feiler (Gretel), Rosie Aldridge (Hexe) und Ida Ränzlöv (Hänsel)
© Matthias Baus

Was mögen die zahlreichen Kinder in der Premiere wohl gedacht haben, dass es im dritten Bild auch kein Knusperhäuschen gibt? Die Szenerie ist plötzlich bunt und poppig und statt von Lebkuchen zu naschen, lutschen die Kinder an runden undefinierbaren Scheiben herum, den Produkten der Firma „Leckermaul”, an deren Fassade sie kleben. Die Hexe stellt sich als Chefin dieses Unternehmens heraus und ihre Geschäftsidee ist es, auf industrielle Weise Kinderkörper zu Süßigkeiten zu verarbeiten, und der Produktionsprozess mit Kran und Fließband lässt sich sogar im Hintergrund verfolgen. Aus der skurril-phantastischen Komik mit der Knusperhexe ist hier, auch wenn alles nur stilisiert ist, auf platte Weise zynische Bosheit geworden. Die Frage nach dem tieferen Sinn bliebt auch hier offen.

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Rosie Aldridge (Hexe)
© Matthias Baus

Nach einiger Zauberei (Sandmann), viel Hokuspokus (Hexe) und szenischem Wirrwarr (Gretels List) gibt es am Schluss die Erlösung der geretteten Kinder, die zusammen mit sieben Figuren aus dem Hintergrund auftauchen, die sich schon die ganze Oper über als Kinderfänger betätigt haben. Wie es das Libretto vorsieht, löst sich mit dem Dank der Kuchenkinder, dem freudig trällernden Vater und dem feierlichen Schlusschoral alles in Wohlgefallen auf. Gut, dass nach all dem Firlefanz hier die Oper wieder zu sich selber kommt. Aber dass Hänsel und Gretel auch schlüssig und mit Pfiff inszeniert sein könnte, ohne gleichzeitig in Klischees abzugleiten – diesen Gedanken musste man aus der Stuttgarter Staatsoper an diesem Abend mit nach Hause nehmen.

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Josefin Feiler (Gretel), Rosie Aldridge (Hexe) und Ida Ränzlöv (Hänsel)
© Matthias Baus

Gerettet wurde die Produktion wenigstens durch das spielfreudige Ensemble, allen voran das Geschwisterpaar Josefin Feiler als Gretel und Ida Ränzlov als Hänsel. Die beiden tanzten herzerfrischend und mit ansteckender Lust und sangen mit wohltuend jungen Stimmen. Ein großer Pluspunkt des Abends war auch Shigeo Ishino, der den beschwipsten Vater hinreißend spielte und sang. Am Pult des Staatsorchesters stand als Gast Alevtina Ioffe, Musikdirektorin am St. Petersburger Mikhailovsky Theater. Sie dirigierte zupackend und straff, ließ das Orchester aber durchweg zu laut musizieren, sodass an einigen Stellen vor allem die Sängerinnen der Mutter (Catriona Smith) und der Hexe (Rosie Aldrige) nicht genügend durchdringen konnten. Leider war auch die schöne lyrische Stimme von Claudia Muschio mitunter vom massigen Orchesterklang überdeckt. Das Staatsorchester spielte differenziert und gewohnt klangschön, besonders auch in den solistischen Partien.

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