Staatstheater Karlsruhe: Große Emotionen mit starken Bildern – „Tolomeo, Re d´Egitto“ von Händel

Staatstheater Karlsruhe/TOLOMEO/ Cameron Shabazi (Tolomeo)/Foto @ Falk von Traubenberg

Do you know this opera by Handel? The music is gorgeous, and the story is that of a man with an incredible set of moral values“-das schreibt der Darsteller des Tolomeo, Cameron Shahbazi auf seiner Facebook-Seite. Das Fünf-Personen-Stück über Tolomeo, den ältesten Sohn der ägyptischen Königin Cleopatra, den diese zu Gunsten ihres jüngeren Sohnes Alessandro vom ägyptischen Thron vertrieben hat, ist ein Drama über Verlieben, Verzichten und Verzeihen. Musikalisch spannungsgeladen und szenisch die Gefühle und Beziehungen der singenden Protagonisten auslotend ergibt sich ein auch optisch beeindruckender Opernabend, bei dem das hervorragende Ensemble brilliert. (Besuchte Vorstellung am 2. März 2022)

 

Georg Friedrich Händel hat die Arien und Duette den besten Sänger*innen seiner Zeit – dem Kastratenstar Senesino und zwei Primadonnen, Francesca Cuzzoni und Faustina Bordoni – auf den Leib geschrieben. Er gab ihnen Gelegenheit, mit schönen Stimmen und virtuosen Koloraturen und Intervallsprüngen ihre Kunstfertigkeit zu zeigen und so tiefe Gefühle auszudrücken.

Die Internationalen Händelfestspiele in Karlsruhe haben den Anspruch, auch selten gespielte Werke des aus Sachsen stammenden Komponisten mit hervorragenden Solist*innen in historisch informierter Aufführungspraxis auf die Bühne zu bringen. Man wendet sich damit an eine internationale Fangemeinde von Barockmusik.

Staatstheater Karlsruhe/TOLOMEO/ Ensemble/Foto @ Falk von Traubenberg

„Tolomeo, Re d´Egitto“ nach dem Libretto von Nicola Francesco Haym ist die letzte von 14 Opern, die Händel für sein Theater am Haymarket in London schrieb und am 30. April 1728 zur Uraufführung brachte. Das Theater ging nach sieben Aufführungen in Konkurs, denn die Kunstform hatte sich überlebt. Die endlose Folge von sopranlastigen Rezitativen und Da Capo- Arien kann, wenn sie nicht hervorragend gesungen und gespielt ist, ermüdend wirken. Einen Chor gab es nur am Schluss, gesungen von den Solisten, und ganz selten Duette. Die Handlung wurde oft nicht verstanden, denn es wurde italienisch gesungen. Ein weiterer Grund für den Konkurs war, dass die Primadonnen und die Kastraten, die in der Regel die männlichen Titelrollen sangen, horrende Gagen verlangten.

John Gays satirische „Beggar´s Opera“ mit gesprochenen Texten und Gassenhauern in englischer Sprache mit Johan Christoph Pepuschs Musik zog das Publikum viel stärker an als das Dramma per musica mit italienischen Rezitativen und Arien. Dabei fällt „Tolomeo, Re d´Egitto“ durch eine ungewöhnliche Einheit von Raum und Zeit auf und enthält deutlich weniger Rezitative und mehr Duette als andere Opern Händels. Tolomeo ist darüber hinaus ein besonders faszinierender Titelheld.

Die Handlung kommt mit fünf Personen aus: Tolomeo, ins Exil gejagter ältester Sohn der ägyptischen Königin Kleopatra, befindet sich als Hirte Osmin verkleidet im Exil auf Zypern und leidet darunter, dass er im Exil leben muss und seine Verlobte Seleuce verloren glaubt. Er will sich ins Meer stürzen, um zu ertrinken, aber rettet stattdessen einen erschöpften Schiffsbrüchigen aus den Fluten. Es ist sein jüngerer Bruder Alessandro, der nach Zypern gekommen ist, um ihn umzubringen. Er könnte sich jetzt an ihm rächen, doch er lässt den Ohnmächtigen am Strand liegen und geht davon.

Staatstheater Karlsruhe/TOLOMEO/ Ensemble s.u./Foto @ Falk von Traubenberg

Elisa, Schwester des zypriotischen Herrschers Araspe, findet den geretteten Schiffbrüchigen. Der verliebt sich auf den ersten Blick in sie und folgt ihr in das Haus ihres Bruders. Elisas Herz gehört aber standeswidrig dem Hirten Osmin. König Araspe wirbt um die Hirtin Delia, die ihn jedoch abweist – sie ist die inkognito auf Zypern lebende Seleuce und sucht Tolomeo, ihren Gemahl. Als Araspe Delia androht, seinen Rivalen vor ihren Augen zu töten und sie zu seiner Frau zu machen, verzweifelt sie an ihrem Schicksal. Osmin, von Araspe zur Rede gestellt, leugnet, Delia zu kennen und wird noch einmal verschont. Als Osmin sich als Tolomeo zu erkennen gibt ist Elisa wild entschlossen, Tolomeo für sich zu erobern.

Seleuce ist untröstlich vor Sehnsucht nach Tolomeo. Als Elisa ihn zu ihr bringt verrät er ihren Namen. Sie dagegen gibt vor, ihn nicht zu kennen und flieht. Elisa hat die beiden durchschaut. Ein Brief meldet, Kleopatra, die Mutter Tolomeos und Alessandros, sei gestorben. Elisa möchte Tolomeos Frau werden und mit ihm, dem rechtmäßigen Thronfolger, den ägyptischen Thron besteigen. Tolomeo ist aber bereit, für seine Liebe zu Seleuce auf seine Herrschaftsansprüche zu verzichten. Delia und Tolomeo begegnen sich in Gegenwart Araspes. Um Tolomeo zu schützen leugnet sie, Seleuce zu sein. Elisa verfolgt nun den Plan, Tolomeo umzubringen und mit Alessandro Königin in Ägypten zu werden. Tolomeos depressive Stimmung ausnutzend gibt sie ihm ein Fläschchen Gift, mit dem er sich umbringen könne.

Tolomeos Sterbegesang ist zu Tränen rührend. Er hat das Gift von Elisa genommen und beklagt sein Schicksal. Sein aushauchendes Leben ist eindrucksvoll komponiert. Araspe präsentiert Alessandro seinen vermeintlich toten Bruder. Er glaubt, Delia/Seleuce nun endlich für sich zu haben. Doch Elisa hat verzichtet: sie hat das Gift gegen ein Schlafmittel ausgetauscht. Alessandro erklärt Tolomeo zum rechtmäßigen Herrscher Ägyptens.

Staatstheater Karlsruhe/TOLOMEO/ Morgan Pearse (Araspe), Louise Kemény (Seleuce), Eléonore Pancrazi (Elisa)/Foto @ Falk von Traubenberg

Das beeindruckende Bühnenbild von Adeline Caron zeigt eine Fensterfront, vor der sich unmittelbar das wogende Meer bewegt. Inspiriert ist es durch das Hotel „Les Roches Noires“ in Trouville, Frankreich, das direkt am Atlantik liegt, und dessen Räume morgens lichtdurchflutet den direkten Blick auf den Ozean bieten. Man erkennt auf der ungewöhnlich breiten Bühne eine sehr geräumige Lobby, hinter der man durch die bodentiefen Fenster nur das Meer sieht. Die Videoinstallation von Yann Capotel, die auf die Fensterflächen projiziert ist, gibt den Blick in die Natur frei. Man sieht das Meer, das aufgewühlte Meer, den Sonnenuntergang, man ist unter Wasser, wenn die Gefühle völlig überfordert sind. Die herabhängenden Quallen sind vielleicht etwas übertrieben. Die Kostüme von Alain Blanchot deuten den sozialen Status der Protagonisten an: Elisa im prunkvollen goldbesetzten Cocktailkleid, Alessandro im Kamelhaarmantel mit Militärischen Zeichen an den Ärmeln, Araspe im Gesellschaftsanzg mit Goldspange, Seleuce im schlichten weißen Seidenhemd mit dunkelgrauem Mantel und Tolomeo in Chinos mit weißem Hemd und Lederjacke.

Die Regie von Benjamin Lazar, der 2021 auch in Köln „Written on Skin“ inszeniert hat, stellt das Beziehungsgeflecht zwischen den fünf Protagonist*innen dar: auch wenn sie gerade nicht singen befinden sich die Personen auf der Bühne. Sie verdeutlichen durch Gesten gegenüber den aktiv singenden ihre Gefühle oder sie verharren auf einem der Sofas oder auf dem Boden, sind also immer präsent. Dadurch gewinnt das Kammerspiel um Tolomeo und Seleuce enorm an Stringenz. Die Abfolge aus sparsam verwendeten Rezitativen und drei Duetten sowie einem glücklichen Finale mit allen fünf Akteuren gerät zu einem faszinierenden Psychogramm, in dem der sanfte, alles verzeihende Tolomeo schließlich sein Glück mit seiner Geliebten Seleuce als rechtmäßiger Nachfolger Kleopatras findet.

Die großen Emotionen – Liebe, Begehren, Zorn, Rache, Sehnsucht, Todessehnsucht – hat Händel vor allem auch in die Orchesterbegleitung der ergreifenden Arien und Ensembles komponiert. Mit Naturhorn, Laute und Traverse und Streichinstrumenten mit Darmsaiten gelangen in Tateinheit mit dem Bühnenbild beeindruckende Naturschilderungen. Es dirigierte Federico Maria Sardelli, der als Experte für die historische Aufführungspraxis von Barockmusik gilt und der jede einzelne Phrasierung mit seinen 31 im Programmheft namentlich genannten Instrumentalisten ausdeutete und eine enorme Spannung aufbaute. Hervorzuheben ist am Cembalo Rian Voskullen, der die Rezitative begleitete. Die historischen Instrumente sind viel schwerer zu intonieren als moderne Instrumente und klingen viel leiser und rauer als ein modernes Opernorchester. Streng genommen ist das Staatstheater Karlsruhe für diese filigrane Musik viel zu groß. Die Barocktheater waren viel kleiner, wie das Markgräfliche Opernhaus in Bayreuth beweist.

Besonders zum Gelingen beigetragen hat allerdings das hervorragende typgerechte Ensemble.

Staatstheater Karlsruhe/TOLOMEO/ Louise Kemény (Seleuce) Meili Li (Alessandro)/Foto @ Falk von Traubenberg

Meili Li als Alessandro ist ein Countertenor mit einer perfekt geführten unfassbar klaren Stimme mit bruchlosem Übergang in die Kopfstimme, der die Erschöpfung des Schiffsbrüchigen, die Verliebtheit in Elisa, den Verzicht auf den Thron in berückenden Arien zum Ausdruck bringt. Der australische Bariton Morgan Pearse als Araspe, einzige echte Männerstimme, gestaltet beeindruckend die Herrschsucht des Regenten, die Frustration des verschmähten Liebhabers und die Eifersucht des Machos auf seinen Rivalen. Er kann richtig zürnen, rasen und böse sein. Sein schön timbrierter Bariton hat großes dramatisches Potential, ein idealer Figaro.

Die beiden Diven – Eleonore Pancrasi als Elisa und Louise Kemény als Seleuce/Delia – spielen ihre Rollen mit Bravour. Pancrasi gibt der fordernden Liebhaberin, die vor dem Mord an ihrer Rivalin und später dem Mord an ihrem Geliebten, der sich ihr verweigert, nicht zurückschreckt, aber schließlich auf ihr Glück verzichtet mit perfekten Koloraturen und halsbrecherischen Intervallsprüngen Ausdruck. Louise Kemény zeichnet das Bild einer unglücklichen Frau, die ihren Geliebten sucht und sich vor Sehnsucht nach ihm verzehrt, schließlich ihr Glück, ihn gefunden zu haben, mit berückend schönem lyrischem Timbre. Ihr beseelter lyrischer Sopran ist, seit ich sie im „Rosenkavalier“ in Bonn als Sophie erlebt habe, noch reifer und voller geworden. Höhepunkte der Oper sind die Duette, die sie mit Cameron Shahbazi hat. Die beiden Stimmen harmonieren perfekt.

Staatstheater Karlsruhe/TOLOMEO/ Cameron Shabazi (Tolomeo)/Foto @ Falk von Traubenberg

Der iranisch-kanadische Countertenor Cameron Shahbazi verleiht dem Titelhelden Tolomeo eine beeindruckende Gestalt. Sein Countertenor ist überirdisch schön und dabei außergewöhnlich voluminös. Er gestaltet die Empfindungen des Protagonisten – Verletztheit, Todessehnsucht, Sehnsucht nach der Geliebten, Resignation, Glück des Wiedersehens – mit ungeheuer intensivem Ausdruck. Man empfindet sofort Mitleid mit diesem von seiner Mutter ins Exil verstoßenen jungen Mann. Er ist – ein Äquivalent zu Mozarts Tito – zu gut für diese Welt und ein echter Gegenpol zum männlich- dominant auftrumpfenden Araspe.  Wie in der Barockoper üblich gewinnt er am Schluss seine Geliebte und sein Königreich, weil die Widersacher sich von seiner Milde und Güte zu Verzicht überzeugen lassen.  Sein beeindruckend komponierter und musizierter Tod durch Gift rührt zu Tränen.

Cameron Shahbazi hat unübersehbare Starqualitäten, denn die Stimme ist unverwechselbar, wirkt authentisch, und er sieht faszinierend gut aus. Ich habe ihn zum ersten Mal erlebt, als er in Köln The Boy/Angel1 in „Written on Skin“ gesungen hat, und es war für mich sofort klar, dass ich ihn in einer Barockoper sehen musste. Sein Repertoire umfasst neben Barockmusik hauptsächlich moderne Musik wie Brittens „Midsummernight´s Dream“, wo er an der Oper Frankfurt im Mai 2022 in einem Rollen- und Hausdebut den Oberon singen wird.

Shahbazi trug beim Schlussapplaus ein „No War“ – T-Shirt. Alle fünf Sänger*innen präsentierten ukrainische Flaggen. Wenn alle Herrscher so klug und selbstlos wären wie dieser Tolomeo gäbe es keine Kriege!

 

  • Rezension von Ursula Hartlapp-Lindemeyer / Red. DAS OPERNMAGAZIN
  • Staatstheater Karlsruhe / Stückeseite
  • Titelfoto: Staatstheater Karlsruhe/TOLOMEO/ Morgan Pearse (Araspe), Cameron Shabazi (Tolomeo), Louise Kemény (Seleuce), Meili Li (Alessandro), Eléonore Pancrazi (Elisa)/Foto @ Falk von Traubenberg

 

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