MiR Gelsenkirchen: CARMEN-Premiere mit überzeugenden Rollendebüts

MiR/CARMEN/Lina Hoffmann/Foto @ Karl u. Monika Forster

Am Ende standen sich Carmen und Don José in der Stierkampfarena gegenüber. Auf den Rängen der Arena das zuschauende Publikum. Unter ihnen auch der Torero Escamillo. Es feuerte den Kampf des ehemals liebenden Paares an, welches sich nun in Hass und Verachtung gegenüber stand. Der Kampf endete mit dem Tod Carmens und der tiefen Verzweiflung Don Josés über seine Eifersuchtstat. In der Gelsenkirchener Inszenierung von Rahel Thiel findet der erbitterte Kampf der beiden nicht vor der Arena statt, sondern im Innern und vor den Augen einer sensationslustigen Meute, die sonst auch dem sinnlosen Sterben von Tieren zujubelt. Carmen wird in dieser Inszenierung zu einer öffentlichen Person, deren Leben, Lieben, Affären und auch Sterben nicht mehr Privatsache ist. Aber durch diese Sichtweise erhält das CARMEN-Finale ein deutliches Plus an packender Intensivität, noch dazu unterstützt durch die sich immer mehr steigernde Dramatik von Bizets Partitur.

All das ist aber nur möglich, wenn, wie in Gelsenkirchen der Fall, zudem noch zwei Protagonisten auf der Bühne stehen, die diese Dramatik mit gesanglichen und darstellerischen Mitteln so überzeugend über die Rampe bringen, wie es Lina Hoffmann (Carmen) und Khanyiso Gwenxane (Don José) bei der umjubelten Premiere meisterten. (Rezension der Premiere v. 13.03.22)

 

 

Schon vor Beginn der Oper tummeln sich auf offener Bühne einige junge Männer mit Putzeimern, die geflissentlich den Boden wischen. Zu ihnen gesellen sich die Gendarmen, die das Ganze mehr oder weniger gelangweilt beobachten. Währenddessen füllt sich der Zuschauersaal des Musiktheaters im Revier. Mit Einsetzen der populären Ouvertüre füllt sich die Bühne immer mehr und munteres Treiben entsteht auf diesem Platz in Sevilla, vor der Zigarettenfabrik, in der auch Carmen arbeitet. Das Bühnenbild (Dieter Richter) zeigt einen hohen Halbkreis, der die Fassade dieser Fabrik darstellt, mit einer kleinen, schmalen Tür als Eingang für die Arbeiterinnen.

In dieser ersten Szene der Oper lässt Regisseurin Rahel Thiel bereits erkennen, wo sie die Schwerpunkte setzt. Ihre Carmen ist eine Frau, die einerseits die „Verführerin“ darstellt, aber eben auch die verletzliche Frau, die erkennen muss, wie sie von den anwesenden Männern gesehen und behandelt wird. Das zeigt auch die Szene der ankommenden Micaëla. Auch sie wird von der geballten anwesenden militärischen Männlichkeit auf ein weibliches Sexsymbol reduziert, welchem kaum Respekt und Anstand zuteil wird. Thiels Regie ist auch die Regie der kleinen Aufmerksamkeitszeichen. Immer dann, wenn sie ihre DarstellerInnen abseits der Szene agieren lässt, lässt sie dadurch einen sehr besonderen Blick auf die jeweiligen Gemütslagen zu. Eine verführerische, lebenslustige, Männerfantasien anregende und starke Carmen wird dabei zu einer nachdenklichen und verletzlichen Frau. Eine bescheidene und schüchterne Micaëla zu einer im Grunde dann doch sehr starken Persönlichkeit und ein Macho-Don José zu einem von Eifersucht zerfressenden Pantoffelhelden, der seine Grenzen erkennen muss und nur Gewalt als Ausweg aus dieser Lage sieht.

MiR/CARMEN/Ensemble/Foto @ Karl u. Monika Forster

Das im zweiten und dritten Akt geteilte Bühnenbild – es zeigt im unteren Teil die sehr gelungene Darstellung der Bar (Taverne) von Lillas Pastia, einem Freund Carmens – erzählt die Geschichte auf sehr plastische Weise. Zu keinem Zeitpunkt der Inszenierung ist Stillstand auf der Bühne, irgendwo findet immer etwas statt. Das ist besonders gut in der Tavernen-Szene gelungen. Im oberen Teil der geteilten Bühne geht es ruhiger zu. Hier finden die zwischenmenschlichen Momente statt, die eher leisen Momente. Im vierten Akt, dem Finale der Oper, lässt das Bühnenbild den Blick auf das Innere der Stierkampfarena zu. Dort wartet bereits zu Beginn Carmen mit zu Hörnen gefalteten Händen über ihren Kopf, verharrend der Tragödie, die nun ihren Lauf nimmt. Bühnenbild und Kostüme (Renée Listerdahl) zeigen uns ein Sevilla der 1960-er, frühen 1970-er Jahre, die aber insgesamt der Geschichte entsprechend, sehr passend und ansprechend sind. Wobei gerade im vierten Akt das Folkloristische, typisch andalusische, sehr passend vorherrschte.

Eine CARMEN-Inszenierung mit vielen Feinheiten, insbesondere im Zwischenmenschlichen, aber durchaus auch konventionell im positiven Sinne zu nennen. Eine Inszenierung die durchaus den Blick auf die Gleichberechtigung der Frauen in der Gesellschaft wirft und die die eigentlichen Machos in dieser Oper zu Getriebenen ihrer eigenen Sicht auf die scheinbare männliche Lebenswirklichkeit werden lässt. Eine Inszenierung, die Fragen aufwirft. Aber auch die Frage danach, ob diese geschlechtertypischen Klischees immer noch vorherrschend sind oder ob auch sie, wie so vieles, sich im Wandel befinden. Gerade mit Blick auf die heranwachsenden und kommenden Generationen.

Aber was ist die Oper CARMEN ohne die Carmen?

MiR/CARMEN/Lina Hoffmann, Khanyiso Gwenxane/Foto @ Karl u. Monika Forster

Mit Lina Hoffmann steht dem Musiktheater im Revier eine in jeder Beziehung ideale Verkörperung dieser komplexen Opernpartie zur Verfügung. Sie stellte die Verführerin, den Vamp, die Kriminelle, die Liebende und die am Ende Hassende absolut überzeugend dar. Schon bei ihrer Eingangsszene „L’amour est un oiseau rebelle„, der berühmten „Habanera“ im ersten Akt, gestaltete sie vortrefflich in Gesang und herrlich lasziver Darstellung ihre Interpretation der Carmen. Sie lebte ihre Carmen von Akt zu Akt immer mehr aus und setzte gesangliche Höhepunkte nicht nur mit ihrer hervorragend – auch in die „düstere“ Tiefe gehend – gesungenen „Karten-Szene“ im dritten Akt und war in der Finalszene einfach überragend! Für mich einer der überzeugendsten Carmen-Interpretationen der letzten Jahre. Und das waren einige. Bravo Lina Hoffmann zu diesem Debüt, dass auch das Premierenpublikum mit vielen Bravorufen honorierte!

Ihr zur Seite der junge südafrikanische Tenor Khanyiso Gwenxane als Don José. Was für ein Don José! Schon mit seinem ersten Auftritt im ersten Akt ließ er stimmlich aufhorchen. Aber wie er dann sein „La fleur que tu m’avais jetée“ (die berühmte Blumenarie im zweiten Akt) gesanglich interpretierte, ging nicht nur Carmen unter die Haut. Das gesanglich hohe Niveau hielt auch er bis zum Finale aufrecht, steigerte es sogar noch in der finalen Auseinandersetzung mit Carmen, und spielte dabei auch noch überzeugend seine Rolle des Don José . Natürlich auch verdienten großen Applaus und Bravos für ihn und seine Leistung!

Ebenfalls ein bemerkenswertes Debüt durfte Heejin Kim als Micaëla feiern. Es gab begeisterten Zwischenapplaus für ihre große Arie im dritten Akt, „Je dis, que rien ne m epouvante„, in die sie ausnehmend viel Gefühl legte und die zu einem Höhepunkt des Abends wurde. Frau Kim ist noch Mitglied des Opernstudios NRW und nach dieser Leistung darf die Frage erlaubt sein: „Wie lange noch„?. In ihrem Falle hätte ich mir allerdings von Seiten der Kostüme dann doch ein etwas andere Outfit gewünscht. So wirkte sie doch leider mehr wie eine strenge Gouvernante als wie das schüchterne und in Don José verliebte Mädchen vom Dorf. Zumal Bizet dieser Partie besonders viel „musikalisches Herz“ verpasst hat.

MiR/CARMEN/P. Prochera, Ensemble/Foto @ Karl u. Monika Forster

Ganz anders dann die Kostümwahl beim Escamillo von Piotr Prochera. Hier stimmte nun wirklich alles. Ein überaus sportlich wirkender Stierkämpfer, der bei Carmen sofort ins Schwarze traf. Aber auch gesanglich wusste das langjährige Ensemblemitglied wieder voll zu überzeugen. Natürlich lag auch bei Prochera der Focus auf dem populären „Toréador, en garde!“ im zweiten Akt und er gestaltete diese Szene mit seinem kräftigem, so markant klingenden, Bariton auf gewohnt souveräne Weise. Es ist immer wieder eine Freude diesen Künstler auf der Bühne zu erleben. Auch für Piotr Prochera war dies ein glänzendes Rollendebüt.

Dongmin Lee und Anke Sieloff als Carmens Freudinnen Frasquita und Mercédès ergänzten sich stimmlich auf beeindruckende Weise. Dies gilt auch für Tobias Glagau und Adam Temple-Smith als Remendado und Dancairo, die noch dazu auch darstellerisch sehr gefordert waren. Philipp Kranjc verlieh dem Zuniga viel Format und Stimme. Insgesamt mal wieder eine beeindruckende Ensembleleistung des Gelsenkirchener Opernhauses.

MiR/CARMEN/Ensemble/Foto @ Karl u. Monika Forster

Besondere Erwähnung dann noch für Oleh Lebedyev. Der gebürtige Ukrainer ist auch ein Mitglied des Opernstudios NRW und schon fast eine stimmliche Luxusbesetzung für die Partie des Morales. Klar und kräftig sein klangschöner Bariton. Von ihm wird hoffentlich  noch mehr in Zukunft zu erleben sein. Ein großes Talent!

Der Opernchor des MiR, wieder einmal bestens einstudiert von Alexander Eberle, war auch in dieser Inszenierung wieder stark mit eingebunden und erhielt vom Premierenpublikum verdientermaßen viel Applaus für die gezeigte Leistung.

Die musikalische Leitung hatte Gelsenkirchens GMD Rasmus Baumann inne. Er begann die Oper mit einer schmissig gespielten Ouvertüre und fand auch die richtige Balance zwischen dramatischer Lautstärke und den stilleren Momenten der Partitur. Sehr gefühlvoll das Vorspiel zum dritten Akt. Die Neue Philharmonie Westfalen folgte ihm dabei in gewohnt souveräner Weise und stand am Ende der Premiere, wie auch ihr GMD, im Mittelpunkt des Premierenjubels des begeisterten Gelsenkirchener Publikums.

Fazit: Carmen in Gelsenkirchen. Mit einigen herausragenden Rollendebüts. Vorneweg Lina Hoffmann als Titelheldin und Khanyiso Gwenxane als Don Jose. Verpackt in eine Inszenierung, die vieles hinterfragt, die lebendig ist und die die Bühne des MiR voll ausnutzt.

 

  • Rezension von Detlef Obens / DAS OPERNMAGAZIN
  • MiR Gelsenkirchen / Stückeseite
  • Titelfoto: MiR/CARMEN/Lina Hoffmann, Khanyiso Gwenxane/Foto @ Karl u. Monika Forster
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