Ai Weiwei in Rom: Puccinis «Turandot» als politisches Spektakel

Der chinesische Künstler und Aktivist versucht sich erstmals an einer Operninszenierung. Er landet dabei einen veritablen Coup.

Luzi Bernet, Rom
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Die ganze Welt ist eine Bühne: Szene aus Ai Weiweis Inszenierung der Oper «Turandot» von Giacomo Puccini am Teatro dell’Opera di Roma.

Die ganze Welt ist eine Bühne: Szene aus Ai Weiweis Inszenierung der Oper «Turandot» von Giacomo Puccini am Teatro dell’Opera di Roma.

Fabrizio Sansoni / Teatro dell’Opera di Roma

Seine Karriere an der Oper umfasst genau zwei Auftritte: einen ersten, winzigen 1987 an der New Yorker Met als Komparse in einer «Turandot»-Inszenierung von Franco Zeffirelli, als er Geld zum Überleben brauchte; und einen zweiten, grossen, jetzt in Rom als Regisseur, Bühnenbildner, Kostümgestalter und Videokünstler in Personalunion, ebenfalls bei Puccinis «Turandot». Einen «One Shot» nennt man das, was Ai Weiwei am Teatro dell’Opera di Roma auf die Bühne gebracht hat, eine Aufführung ohne Aussicht auf Wiederholung.

So jedenfalls liess sich der chinesische Konzeptkünstler in den Medien vernehmen, als er gefragt wurde, ob es weitere Operninszenierungen von ihm geben werde. Nein, «Turandot» nach der Art von Ai Weiwei soll ein einmaliges Ereignis bleiben, eines (fast) ohne Vergangenheit und ohne Zukunft. In seiner Heimat war der 65-jährige Ai Weiwei im Gefängnis und danach unter Hausarrest, weil er sich kritisch über die herrschende Politik geäussert hatte. Mit der Welt der Oper wurde er bisher nicht in Verbindung gebracht.

Allerdings passt sie erstaunlich gut zu einem Mann, der als Künstler in vielen Gattungen zu Hause ist, sei es als Bildhauer, Kurator oder Filmemacher. In seiner «Turandot»-Inszenierung bringt er alles und noch viel mehr zusammen.

Ungewisses Schicksal: Liù (Francesca Dotto) führt den entthronten Tatarenkönig Timur (Antonio Di Matteo). Sie sind auf der Flucht.

Ungewisses Schicksal: Liù (Francesca Dotto) führt den entthronten Tatarenkönig Timur (Antonio Di Matteo). Sie sind auf der Flucht.

Fabrizio Sansoni / Teatro dell’Opera di Roma

Zwei Ebenen gleichzeitig

Auf der Bühne sind die Ruinen einer Stadt auszumachen, mit Türmen und Löchern, der zentrale Teil dreht sich, wird zusammengesetzt und zerlegt – passend zu Rom, das sich ja dem Besucher mit seinen offenen Ruinen ganz ähnlich präsentiert.

Hinter dieser traditionellen Kulisse, in der sich der Hofstaat und das Volk am chinesischen Kaiserhof in langen Gewändern zu eindrücklichen Bildern gruppieren, gibt es eine zweite Ebene: Diejenige mit Videosequenzen, die Bilder mit aktuellen Bezügen zeigen: Szenen der Hongkonger Protestbewegung, solchen aus Wuhan während der Pandemie, von Kriegsschauplätzen, Flüchtlingen, Autobahnen, chinesischen Millionenstädten. Kurzum: Filmausschnitte wie aus einer Nachrichtensendung unserer Tage.

Eigentlich hätte Ai Weiweis «Turandot»-Produktion schon 2020 in Rom auf die Bühne kommen sollen, aber Corona stellte alle Pläne auf den Kopf. Der Unterbruch von zwei Jahren habe es erlaubt, die Inszenierung reifen zu lassen wie einen Wein, meinte der Künstler dazu. Ob das der Grund dafür ist, dass die Aufführung derart unter die Haut geht? Kaum. Vielmehr ist es die Ereignisdichte dieser Zeit, vor allem der Ukraine-Krieg, der uns alles in einem anderen Licht sehen lässt.

Umjubelte ukrainische Dirigentin

Plötzlich haben die grossen Themen dieser Oper, Liebe, Gewalt, Krieg und Frieden, eine ganz neue Dringlichkeit. Sie wird im Fall von Ai Weiweis Inszenierung noch verstärkt durch die Tatsache, dass am Dirigentenpult erstmals die junge ukrainische Oksana Lyniv steht, deren dunkles Kleid ein Band in den Nationalfarben ihrer Heimat ziert. Als sie sich am Ende des Abends dem Publikum präsentiert, brandet der Applaus auf.

Und so wird man Zeuge eines Spektakels, das weit entfernt ist von der Vorstellung der Oper als Rückzugsort. Kein Abschweifen der Gedanken, kein Schwelgen, keine Glückseligkeit, auch nicht, als die himmlische Arie «Nessun dorma» erklingt – nichts von all dem stellt sich in dieser Aufführung ein. Vielmehr wird der Abend zu einer einzigen Anstrengung, einer solchen freilich, die sich lohnt und zum Nachdenken zwingt. Nach zweieinhalb Stunden verlässt man den Ort der Darbietung einigermassen erschöpft.

Auch im Reich der märchenhaften Turandot hält offenbar man nicht viel von Freizügigkeit.

Auch im Reich der märchenhaften Turandot hält offenbar man nicht viel von Freizügigkeit.

Fabrizio Sansoni / Teatro dell’Opera di Roma

Im Schatten Mailands und Neapels

Rom ist auf diese Weise, gewissermassen durch die Arglist der Zeit, zu einem spektakulären Ereignis gekommen, das sein Opernhaus auf der internationalen Bühne unvermittelt wieder in Erinnerung ruft. Die hiesige Oper leidet traditionell darunter, dass sie künstlerisch immer im Schatten der Mailänder Scala und des Teatro San Carlo in Neapel steht. Mit grossen Namen versucht man dies mitunter wettzumachen. 2016 gelang es dem Modeschöpfer Valentino, die amerikanische Regisseurin und Oscar-Preisträgerin Sofia Coppola für eine stark beachtete Inszenierung von Verdis «La Traviata» nach Rom zu holen. Spektakulär sind jeweils auch die sommerlichen Aufführungen in den Caracalla-Thermen.

In der Vergangenheit gab die Römer Oper aber vor allem mit Finanzsorgen und Streiks zu reden. 2014 warf Riccardo Muti entnervt das Handtuch, weil er sich angesichts der dauernden Unruhe ausserstande sah, an dem Haus erfolgreich und konzentriert zu arbeiten. Muti trägt in Rom immerhin den Titel eines Ehrendirigenten auf Lebenszeit.

Nun ist der Oper auf dem Viminal, einem der sieben klassischen Hügel Roms, begünstigt durch die weltpolitischen Entwicklungen, auch künstlerisch wieder einmal ein richtiger Coup gelungen. Laut einem Sprecher haben sich die Investitionen, die Verpflichtung Ai Weiweis und das lange Warten ausgezahlt: Sämtliche «Turandot»-Abende waren ausverkauft, gesamthaft sollen rund 120 000 Zuschauer das Spektakel gesehen haben.

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