Hauptbild
Stéphanie d'Oustrac. Foto: J. Berger
Stéphanie d'Oustrac. Foto: J. Berger
Hauptrubrik
Banner Full-Size

Weimar-verdächtige Männerfantasie: Ambroise Thomas’ „Mignon“ in Liège

Publikationsdatum
Body

Vincent Boussard hat in Liège recht. Ambroise Thomas’ „Mignon“ harmoniert mit dem Geist der Goethezeit mindestens so stark wie mit französischer Oper des mittleren 19. Jahrhunderts. Die Opéra Royal de Wallonie machte es sich nicht einfach: Fast drei Stunden reine Spieldauer trotz Erstfassung mit umfangreichen Dialogen. Am Pult sorgte Frédéric Chaslin für die fulminante Feinmechanik zwischen Orchester und Bühne. Es gab drei phänomenale Besetzungen: Bravi für Stéphanie d’Oustrac (Mignon), Jodie Devos (Philine) und Philippe Talbot (Wilhelm Meister).

  Eine hinreißende Oper: Trotzdem hat es Ambroise Thomas in Deutschland schwer. Dabei gibt es gar keine plausiblen Gründe mehr für Abwertungen dieses und ähnlicher Werke. Den Vorwurf einer Simplifizierung von Goethes Roman „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ durch Thomas’ Textdichter Jules Barbier und Michel Carré hat die Theaterwissenschaft längst entkräftet. An der Opéra Royal de Wallonie Liége kam es zu einer in vielerlei Hinsicht idealen Neuproduktion.

Dort entschied man sich für die Erstfassung von 1866 mit nur wenigen Chorszenen und Konzentration auf die intimeren Details der Verwirrungen des Bürgersohns Wilhelm Meister, der Koketterie-Rekordhalterin Philine und der bizarren Mignon. Bei Thomas dürfte Mignon sogar überleben – anders als bei Goethe in dessen Romanurfassung „Wilhelm Meisters theatralische Sendung“, die der Komponist nicht kennen konnte. Bei Thomas ist Mignon nämlich nicht die Frucht einer inzestuösen Geschwisterliebe, was in Liège den etwas unvermittelt losbrechenden Vaudeville-Schluss mit dem Refrain des früher so populären „Zitronenlieds“ richtiggehend herbeizwingt.

„Mignon“ enthält eine mindestens so pralle Hitparade wie Gounods „Faust“ und Massenets „Werther“, die beiden anderen Schlag-nach-bei-Goethe-Opern französischer Edel-Provenienz. Es reihen sich schmelzende, lyrische, elegische Notengebilde: „Kennst du das Land“, Philines Koloratur-Polonaise „Ich bin Titania“, Wilhelms Ariosi und das, was die deutschen Untertitel in der Wallonischen Nationaloper „böhmisch“ nennen. Dabei war Thomas sogar für heutige Verhältnisse schon sehr weit, als er Mignons Charakterstück „Styrienne“ und nicht „Chanson bohémienne“ betitelte. Z-Worte muss man also nicht fürchten.

Magnifique! Frédéric Chaslin schafft mit dem Orchestre de l’Opéra Royal de Wallonie-Liège, hier unterstützt von Studierenden des Conservatoire Royal, das ideale Instrumentalfundament. Duftige Soli schweben und in den ‚böhmischen Tänzen‘ darf es zu manchen Seelenregungen auch holzig klingen. Immer ist alles exakt und im richtigen Tempo – definitiv ohne Kitsch, der hier nur von musiktheatralen Miesepetern behauptet wird. Vor allem liebt Chaslin seine Sänger und lässt ihnen nach einer souveränen Einstudierung der keineswegs harmlosen Partien den beglückend freien Lauf.

Vincent Boussard erzählt viel mit Vincent Lemaires sensiblem Dekor und Clara Peluffo Valentinis Kostümmix aus Fast-Gegenwart für Wilhelm Meister, Goethezeit für die Frauen und Zweites Kaiserreich für den Chor (passgenaue Einstudierung: Denis Segond). Letzterer in der Funktion einer bürgerlichen Zuschauerschaft lässt Boussard fast kalt. Umso mehr interessiert sich der Regisseur für die Backstage-Spielchen Wilhelm Meisters auf der hinter einen weißen Rahmen gesetzten Traumtänzerbühne. Auf der vertut sich Wilhelm Meister zwischen affektiertem und emotionalem Diven-Getue mit rührender Unerfahrenheit ziemlich. Bei Boussard steht Wilhelm Meisters Erziehung zum Gefühl im Zentrum – wie in Goethes ursprünglichem Text. Die Nebenpartien treten recht parfümiert auf wie Frédéric (Geoffrey Degives) und Jérémy Duffau (Laërte). Man folgt Thomas’ Partitur gern, wenn dessen Musik von Italien träumt wie die Titelfigur Mignon.

Wilhelm Meister schmilzt vor dem Charisma der beiden von ihm angeflirteten und angeschmachteten Actricen wie Schnee in der Sonne. So weiß er längst nicht mehr, wer die Reißleine von Dichtung und Wahrheit zieht. Die Grenze zwischen Realität und Traumspiel macht Vincent Lemaire in seinem Raumkonstrukt zunichte. Mignon und Philine schlüpfen manchmal in Trenchcoats und verlassen so die Spinnennetze ihrer Theaterwelt. Die Outfits beider Edelfiguren switchen in Wilhelms Phantasie-Karussell ständig von blond zu braun und von braun zu blond. Clara Peluffo Valentini inspirierte sich an Fragonards Rokoko-Zierpuppen und Füsslis Frauen mit offenen Haaren und hohen Taillen. Das Frauen-Roulette dreht sich mit viel Anmut und viel Neurose – in idealer Verblendung zur betörenden Musik sogar dann, wenn Mignon in elsässischer Vintage-Lederhose auftritt.

Der Tenor Philippe Talbot kleidet seine Ambivalenz zwischen der feudalen und der frühbürgerlichen Männerphantasie in magische Töne von stilistischer Perfektion und sanft betörendem Farbspiel. Das macht aus dem bei Thomas recht unverbindlichen generösem Wilhelm Meister einen echten Meister des Ausdrucks und des streichelnden Melos. Bei Lemaire dreht sich viel um’s Cembalo. Höhepunkt für Jodie Devos ist demzufolge nicht Philines Bravour-Polonaise, bei der sich hier mit Champagner zuschüttet, sondern die nur aus Rezitativen und Koloraturperlen bestehende Endlos-Petitesse „Alerte alerte“. Her hat die junge Sopranistin den idealen Fokus ihres immensen Könnens endlich gefunden. Das Niedliche mixt sie mit etwas Kälte, einer von Eleganz gebremsten Abgebrühtheit und positioniert sich damit mehr bei Zola als im Geist von Weimar. Die lange Boudoir-Szene gerät zu Devos’ Triumph.

Abgründig dagegen Stéphanie d’Oustrac. Als Heroine und Hysterikerin ist sie großartig, im Zitronenlied von rühmlicher und im dritten Akt, der bei Boussard eher in den Abgrund als ins Glück taumelt, von edler Größe. Chaslin schont sie nicht. In seiner stellenweise hochdramatischen Lesart wird Mignon für d’Oustrac eine Grenzpartei, in welcher ihre herb lyrische Gefasstheit bei den gar nicht so wenigen lauten Stellen ins Nervöse ausschlägt. Jean Teitgen als hier die Harfe gegen Rollenbücher tauschender Lothario reicht nicht ganz an die verführerische Grandezza der drei Hauptpartien. Die Spannung des Abends trug so stark, dass Beifall fast nur zur Pause und am Schluss explosionsartig aufrauschte. Kein Wunder: Alles in allem war es großartig.

  • Premiere: 01.04. – Besuchte Vorstellung: 03.04.

  

Weiterlesen mit nmz+

Sie haben bereits ein Online Abo? Hier einloggen.

 

Testen Sie das Digital Abo drei Monate lang für nur € 4,50

oder upgraden Sie Ihr bestehendes Print-Abo für nur € 10,00.

Ihr Account wird sofort freigeschaltet!