An den Opern von Richard Strauss, von denen er inzwischen einige inszeniert habe, fasziniere ihn vor allem der Aspekt der „dysfunktionalen“ Familie, erklärt Christof Loy in einem Filminterview der Finnischen Nationaloper. Da mag er an Elektra mit dem Gattenmord denken, an Arabella, aber auch das Happy End für Sophie und Octavian im Rosenkavalier wirkt ja wie ein Traum.

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Andrew Foster-Williams (Jochanaan), Nikolai Schukoff (Herodes) und Sara Jakubiak (Salome)
© Heikki Tuuli

In Helsinki hat Loy jetzt die wohl „dysfunktionalste“ aller Familien bei Strauss auf die Bühne gebracht. Salome ist eine Oper der fehlgeleiteten Begehrlichkeiten: Salome ist fasziniert vom Propheten Jochanaan, den jedoch nur sein Hass auf den verderbten Hof von Salomes Mutter Herodias und seine Prophezeiung eines Erlösers interessieren. Salomes Stiefvater Herodes ist mehr angezogen von seiner Stieftochter als von seiner Ehefrau, und Narraboth, ein junger Hauptmann am Hof, vergöttert die Prinzessin wie ein Nachtgestirn am Himmel. Das hat zur Folge, dass in so manchen Inszenierungen die Hauptfiguren zum Klischee neigen: dem eifernden Propheten, dem geifernden Stiefvater, dem pubertären Hauptmann, der grausamen Salome.

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Salome
© Heikki Tuuli

Christof Loy hat die Figuren ernst genommen, das Libretto und vor allem die Musik genau durchleuchtet und vielschichtige Charaktere auf die Bühne gebracht. So wiederholt Jochanaan zu Beginn der Oper zwar immer wieder seine Prophezeiung vom kommenden Erlöser, doch diese Wiederholungen werden im Lauf der Oper immer weniger und beschränken sich meist auf leitmotivische Anklänge im Orchester, die Strauss ganz im Gefolge Wagners in dieser Oper meisterhaft einsetzt und die Dirigent Hannu Lintu subtil zu Gehör bringt. Und so wandelt sich auch die Figur des Jochanaan bei Loy; vom selbstgewissen prophetischen Eiferer zum Menschen, der von der Hofgesellschaft – in diesem Fall Partygäste eines reichen Industriellen – angegriffen und schließlich vereinnahmt wird: Tritt er zu Beginn nackt auf, als bloßer Mensch, wird er am Ende im vornehmen Gesellschaftsanzug ununterscheidbar sein von dem Rest der Gesellschaft.

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Salome
© Heikki Tuuli

Die Sänger folgen Loy dabei. Mihails Čulpajevs macht mit seinem lyrischen, sehr flexiblen Tenor aus Narraboth einen schwärmerischen Jüngling, Nikolai Schukoff gestaltet den Herodes stimmlich mit der nötigen herrischen Schärfe, ist aber stets ein ernst zu nehmender Charakter, auch wenn er sein Mäntelchen gern nach dem Wind hängt, Andrew Foster-Williams artikuliert die zu Beginn fast manisch wiederholten Prophezeiungen mit markantem Bariton, aber nie stentorhaft hart, stets menschlich, und wird zunehmend lyrischer im Stimmduktus. Nahezu unübertrefflich in der Titelrolle ist Vida Miknevičiūtė. Sie kann unmenschlich hart, überheblich, am Ende übersteigert metallisch in ihrem Liebeswahn klingen, aber auch lyrisch zart. Allein wie sie am Ende den Namen Jochanaan Silbe für Silbe aus höchster Höhe nach unten artikuliert, lässt einem den Atem stocken.

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Nikolai Schukoff (Herodes), Sara Jakubiak (Salome) und Karin Lovelius (Herodias)
© Heikki Tuuli

Auch mimisch ist sie die beherrschende Figur. Ihre Salome ist zu Beginn die kühle Blonde im Hosenanzug, die mit der Männergesellschaft nichts zu tun haben will, wird aber zunehmend menschlich in ihrem Gebaren, wenn sie um die Zuneigung des Propheten buhlt – Miknevičiūtė realisiert diesen Charakterwandel meisterhaft. Und auch die Gesellschaft wird von Loy subtil charakterisiert: Kaum erkennen die Männer, dass diese Prinzessin nicht unnahbar ist, fallen alle Hemmungen und sie werden zudringlich; es kommt sogar zur Vergewaltigung. Loy inszeniert hier auf der Bühne, was sich in dieser Szene im Orchester mit fast brutaler Schärfe ereignet und was Hannu Lintu klanggewaltig zu Gehör bringt, der aber die Sänger stets bis hin zu kammermusikalischer Finesse stützt, nie übertönt.

Loy ist eine in jeder Szene glaubhafte psychologische Durchdringung der Handlung und ihrer Protagonisten gelungen, die in jeder Sekunde aus der Musik heraus empfunden ist. Das gilt auch für den letzten der sieben Schleiertänze, die bei ihm – wie inzwischen schon Usus – nicht als konkrete Tänze der Titelfigur inszeniert sind. Bei ihm spielt Salome vielmehr ganz ihre Macht über die Männer aus, deren sie sich wohl bewusst ist. Es reicht ein koketter Blick, um Herodes zum Wahnsinn zu bringen, einen Schritt auf ihn zu, dass er sich dem Ziel seiner sexuellen Wünsche nahe wähnt. Aber auch Jochanaan bleibt nicht unberührt von Salomes Spiel mit der Koketterie.

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Salome
© Heikki Tuuli

Und doch lässt diese Inszenierung den Zuschauer am Ende ratlos zurück. Bei Loy wird Salome nicht, wie sie es wünschte, der Kopf des Propheten serviert, dessen Mund sie am Ende küsst, hier kommt Jochanaan lebendig auf die Bühne, gekleidet im vornehmen Abendanzug wie alle anderen, und am Ende verlassen beide als Paar die Szenerie. Das mag man als Wunschvision Salomes deuten, doch dazu fehlen szenische Hinweise. Das mag man als Rache an Herodes deuten, dem sie bei Loy in ihrem letzten Schleiertanz offenbar in einem Nebengemach seine sexuelle Begierde erfüllt, doch stellt es das ganze Assoziationsspektrum in Frage, das mit dieser Figur verbunden ist. Diese Salome ist am Ende eine liebende junge Frau, deren Partnerwunsch sich erfüllt zu haben scheint. Der Inbegriff der Femme fatale ist sie wahrlich nicht.


Die Vorstellung wurde vom Livestream der Finnish National Opera rezensiert.

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