Hauptbild
Der Mordfall Halit Yozgat. Eine Oper unter Quarantäne. Film von Ben Frost, Richard Mosse und Trevor Tweeten Foto: © Sandra Then
Der Mordfall Halit Yozgat. Eine Oper unter Quarantäne. Film von Ben Frost, Richard Mosse und Trevor Tweeten Foto: © Sandra Then
Hauptrubrik
Banner Full-Size

An der Staatsoper Hannover rekonstruiert Ben Frost den Mord an Halit Yozgat nach der Gegenrecheche 77sqm_9:26min von Forensic Architecture

Publikationsdatum
Body

Es ist eine Oper zu einem „Fall“. Der Mord an Halit Yozgat wird akribisch genau nachgestellt. Aus verschiedenen Perspektiven. Mit den Differenzen, die sich bei Zeugenaussagen in solchen Fällen immer ergeben. Vom Charme eines TV-Krimis, der immer wieder neu ansetzt, ist dieser Fall von sieben Varianten eines Tathergangs in 9:26 Minuten jedoch meilenweit entfernt.

Es geht um einen der Morde des sogenannten Nationalsozialistischen Untergrundes (NSU), die die Republik erschütterten. Wie sich später herausstellte, war es der neunte von zehn Morden zwischen 2000 bis 2007. Er kam zu besonderer Berühmtheit, weil sich im Nachhinein herausstellte, dass am 6. April 2006, als der Mord in dem von der Familie des Opfers betriebenen Internet-Café in Kassel geschah, ein Mitarbeiter des Hessischen Landesamtes für Verfassungsschutz (mindestens?) als Zeuge anwesend war. Er war der einzige, der sich nicht von sich aus bei der Polizei meldete und erst aufgespürt wurde. Nur mit seiner Anwesenheit ist wohl zu erklären, warum zunächst eine Sperrfrist der Akten von 120 (!) Jahren vorgesehen war, die erst nach langem politischen Hickhack auf 40 Jahre reduziert wurde. Selbst die, aber vor allem die ursprüngliche Frist, führen so etwas wie demokratische Transparenz exemplarisch ad absurdum.

Daniela Danz bezieht sich mit ihrem Libretto für das Auftragswerk der Staatsoper Hannover auf das, was die Forschungsgruppe Forensic Architecture unabhängig von den offiziellen Ermittlungen aus allen verfügbaren Informationen zum Tathergang sekundengenau rekonstruiert hat. Dazu gehören das Internet-Café als Tatort, sämtliche sieben Zeugenaussagen, die Bilder, Geräusche, Videos und Login-Daten und Chatverläufe. Céline Akçag, Tahnee Niboro, Gudrun Pelker, Mathias Max Herrmann, Yannick Spanier, Richard Walshe und Sascha Zarrabi verkörpern diese Zeugen. Sie sind in den 130 Minuten des Abends überwiegend damit beschäftigt, zu telefonieren oder sich am PC in ein Computerspiel zu vertiefen. Sie sind dabei fast völlig auf sich konzentriert, also in ihre jeweilige Parallelwelt abgetaucht. Wie das im digitalen Zeitalter halt als „normal“ gilt.

Lisa Däßler und Mirella Weingarten haben den Tatort als Weißen Kubus nachgebaut. Zunächst eine Blackbox in weiß sozusagen. Auf einem Sockel. So, als würde die über dem Boden schweben. Wenn die Bühnenarbeiter damit beginnen, bei jedem Neustart der Szene nach und nach einzelne Wandsegmente zu demontieren, werden die Kabinen und die Besucher sichtbar, wie sie stehend telefonieren, vor dem Bildschirm sitzen und Spielen, dann erschrecken oder zu Boden gehen.

Faiz will offensichtlich einen gebrauchten Passat Baujahr 96 verkaufen. Emre und Achmed sind in ein Kriegsspiel vertieft und unterhalten sich englisch mit Zitaten aus dem Spiel „Call of Duty‟. Hediye sagt dabei einen der metaphorischen Schlüsselsätze: „Das ist Deutschland, kaltes Land.“ Sie sagt auch: „Es gibt nur diese Tage ... Wenn einer mich fragt, ob ich Türkin bin, sage ich „ja‟. Wenn einer mich fragt, ob ich Deutsche bin, sage ich auch „ja‟. Und dann die Tage, da will ich nur „nein‟ sagen. Weil ich die Frage nicht mehr hören will.“

Von dumpfen Geräuschen ist die Rede, vom Geruch von Schießpulver…. Dass der V-Mann Andreas Temme sich in einen Urlaub fantasiert, aber weder ein verdächtiges Geräusch mitbekommen, noch etwas vom Mord gesehen haben will, gehört zum Enthüllenden dieses ambitionierten Projektes. „Entweder hat Herr Temme meinen Sohn selbst getötet oder er hat denjenigen gesehen, der meinen Sohn getötet hat.“ sagt der Vater des Opfers.

An einem Ort, der sich kaum banaler denken lässt, spielt man virtuell mit resp. gegen Nazis Krieg. Und dann bricht wie ein Gespenst genau diese Nazivergangenheit in die Gegenwart ein….

Die intensive Wirkung, in die sich der Abend hineinsteigert, kommt vor allem von der Musik, die der vielseitig begabte australische Komponist und Regisseur Ben Frost (42) dafür zwischen Klassik, Minimal und Heavy Metal kreiert hat. Sie macht genau diese absurde, auf eine banale Alltagskonstellation herunter gebrochene historische Pointe deutlich und entfaltet die Suggestivkraft einer brutalisierten Variante von Minimal Musik. Es ist der drängende, hämmernde Rhythmus, der einem speziellen Parlando unterlegt ist, das eine überschaubare Anzahl von Blöcken mit Alltagskommunikation in den Wiederholungsschleifen immer wieder wechselnden Akteuren zuweist. Die Unsicherheit in der Wahrnehmung von Wirklichkeit spiegelt sich so einerseits auf der Metaebene wider. In diesen Schleifen wird aber zugleich das Diffuse des Geschehenen Schritt für Schritt transparenter. Wenn nach und nach die Wände und Einrichtungsgegenstände demontiert werden und metaphorischen Urgewalten Platz machen. Erst ist es ein Schütze mit Präzisionsgewehr, der durch die Szene geistert – am Ende sind es sieben solcher Gestalten. Wenn es dann auch noch auf die schließlich freie Spielfläche zu schneien beginnt und der Wind eisig aus den Lautsprechern pfeift, dann steigen jetzt, am Ende des zweiten realen Kriegsmonates, Bilder aus dem kollektiven Gedächtnis auf, die an jenen General Winter erinnern, der in der Vergangenheit manche Armee, die Russland besiegen wollte, das Fürchten lehrte.

Was Ben Frost komponiert und auch höchst überzeugend, so artifiziell wie unmittelbar packend inszeniert hat, ist auch der Klang des Krieges. Jenem immer noch nicht restlos aufgeklärten aus dem Untergrund im Kleinen. Und jenem anderen, längst verbannt geglaubten, jetzt drohenden im Großen! 

Die Uraufführung dieses beklemmend faszinierenden, grenzüberschreitenden Projektes war ursprünglich für den März 2020 vorgesehen, was vom Coronaausbruch verhindert wurde. Aus der Not der folgenden schwierigen Probenphase haben Ben Frost und Trevor Tweeten die Tugend eines filmischen Dokuments über Eine Oper unter Quarantäne gemacht. Der Film wurde seither bereits bei den KunstFestSpielen Herrenhausen und online beim Holland Festival, beim Prototype Festival in New York und beim Unsound Festival in Poznań gezeigt.

Der nunmehr fertiggestellten Inszenierung für die Bühne (zunächst in Hannover) ist seit dem russischen Angriff auf Osteuropa Ende Februar eine Dimension von Brisanz zugewachsen, mit der bei ihrem Auftrag niemand rechnen konnte. Was man am Ende hört und sieht fühlt sich an wie in Musik übersetzter Krieg. Die Premiere geht kurz nach dem Beschluss des Bundestages über Lieferung von sogenannten schweren Waffen an die Ukraine über die Bühne. Beim Verlassen des Opernhauses (nach der Generalprobe am 28. April 2022) ist einem das mulmige Grundgefühl, das sich in Sachen Welt eingestellt hat, bewusster denn je. Aber auch das Staunen darüber, zu welcher Treffsicherheit Musiktheater in der Lage ist!

Weiterlesen mit nmz+

Sie haben bereits ein Online Abo? Hier einloggen.

 

Testen Sie das Digital Abo drei Monate lang für nur € 4,50

oder upgraden Sie Ihr bestehendes Print-Abo für nur € 10,00.

Ihr Account wird sofort freigeschaltet!