Musik, die einen im Laufe des Abends immer mehr umfängt, die entspannt und vitalisiert wie ein sprudelndes Duftbad: es ist das Werk eines 24-Jährigen, Georg Friedrich Händels frühe Oper Agrippina. 2019 hat Barrie Kosky für die Bayerische Staatsoper eine Neuinsznierung gestaltet; als Koproduktion war sie inzwischen auch in London, Amsterdam und Hamburg zu sehen

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Iestyn Davies (Ottone) und Elsa Benoit (Poppea)
© Wilfried Hösl

Krieg und Frieden, Ränkeschmiede und Machtmissbrauch sind zeitlose Themen. Das Libretto des Kardinals Vincenzo Grimani ist voller Anspielungen zu zeitgenössischer Politik und Gesellschaft. Agrippina, Gemahlin des Kaisers Claudio, will selbst Kaiserin werden und ihren Sohn Nerone als künftigen Regenten auf den Thron bringen. Als das Gerücht vom Tod des Kaisers aufkommt, trauert sie nicht lange. Keine Intrige, keine noch so schändliche List scheint sie von ihrem Weg abbringen zu können, selbst nachdem sich die Todesnachricht als falsch herausstellt. So gelingt es ihr, den Feldherrn Ottone, der den Kaiser heldenhaft aus den Fluten gerettet hatte und sein Versprechen auf den Thron bekam, bei Claudio in Ungnade fallen zu lassen und seiner Geliebten Poppea zu entfremden. Am Ende vermag nur der Kaiser selbst die verwickelten Verleumdungen, Liebes- und Herrschaftsansprüche aller miteinander zu versöhnen.

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Andrew Hamilton (Lesbo), Gianluca Buratto (Claudio) und Elsa Benoit (Poppea)
© Wilfried Hösl

Kosky versteht es meisterlich, die unterschiedlichen Ebenen in Händels Oper in Balance zu bringen, Intrigen und Machtspielchen ebenso in den Fokus zu rücken wie Komik und lustvolle Erotik, Glanz von mondäner äußerlicher Hülle neben Ratlosigkeit aufgewühlter Seelenzustände. Das alles vermengt er in einen Rausch schnell folgender Bilder wie perlende Koloraturen; Spiel bleibt nicht nur angedeutet, sondern wird körperlich. Allein an der Rampe zu singen ist herausgehobenes Privileg weniger zentraler Szenen. Dabei wirkt Rebecca Ringsts Aluminium-Fassade des Königspalasts anfangs steril wie der Ausstellungspavillon eines Jalousienherstellers, zeigt dann doch erstaunliche Vielfalt im Fächern von Lichtflächen oder Gewähren von Einsichten ins römische Machtzentrum. Wenn der Kubus beim automatisierten Drehen sich nur nicht immer mit vernehmlichem Motorengeräusch in den Gesang einmischen würde…

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Anna Bonitatibus (Agrippina) und Gianluca Buratto (Claudio)
© Wilfried Hösl

Anna Bonitatibus ist Agrippina. Die vor Energie und Spiellaune sprühende italienische Sängerin lieferte ein überragendes Porträt dieser facettenreichen Titelrolle. Sie brillierte mit aufregenden Koloraturen in Spitzentönen ebenso wie mit fast unhörbar leisen Lauten ihrer warm strahlenden Brustregister, begeisterte mit rasantem Wechsel ihrer Mimik und Bewegung. Für sie ist Agrippina auch eine liebende römische Mamma, die ihrem Sohn Beine macht und für ihn kämpft. Und es gehörte zu den eindrücklichsten Momenten, wie sie sich aus scheinbar aussichtslosen Situationen herausargumentiert: ein faszinierend vielschichtiges Psychogramm der Titelheldin.

Strahlende Schönheit in luxuriös leuchtend lindgrüner Divenrobe zwischen Claudio, Nerone und Ottone. Im Versteck- und Ränkespiel steht auch Poppea nicht zurück. Elsa Benoit liebte die luftigen, mühelos leichten Sopranhöhen, die trotzdem immer weich und zart blieben, den geschickten prickelnden Versteckreigen der Liebhaber ebenso wie die furienhafte Verteidigung zwischen den schnell wechselnden Favoriten am Hof. Hinter prachtvoller Fassade zeigte sie auch den Schmerz, den wirklich geliebten Ottone verlieren zu können.

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Elsa Benoit (Poppea)
© Wilfried Hösl

Vom gefeierten Lebensretter zum Gemiedenen im Abseits: eine schicksalhaftere Abwärtsspirale als die des Ottone ist kaum vorstellbar. Diese tragikomische Rolle füllte Countertenor Iestyn Davies in Gestik wie Gesang ergreifend aus: sein weicher Stimmansatz wie seine technische Geschicklichkeit prägten die Rolle, ließen am Tiefpunkt der Geschichte, verprügelt und blutüberströmt in seinem „Voi ch'udite il mio lamento“ atemloses Mitleiden im Saal fühlbar werden.

John Holiday spielte hinreißend den noch jugendlich unsicheren Nerone. Genussvoll parlierend schlenderte er durch die Volksmenge in der zweiten Reihe des Parketts, und seine stimmlichen Ausflüge, angefangen vom Koloraturen-Wahnsinn bis hinauf in die glockenrein gemeisterten Counter-Wonnen, prägten den Eindruck vokaler Urgewalt.

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John Holiday (Nerone)
© Wilfried Hösl

Vor allem die komödiantische Ader des Kaisers Claudio, als liebeshungriger Macho etwa, füllte Gianluca Buratto mit leicht polterndem Bass perfekt aus. Für Geschmeidigkeit und Ausstrahlung der Würde seines Amts blieb da weniger Raum. Untertänig und spielschnell beeindruckte Andrew Hamilton als sein Diener Nesbo.

Agrippinas Höflinge Pallante und Narciso wären andernorts als Knallchargen für die Lacher zuständig gewesen. Kosky ließ beide amüsant, aber doch voller Seele und Zweifel agieren, und stimmlich waren Mattia Olivieri im fundiertem Bassbariton sowie Cortez Mitchell in heller Counterhöhe gleich doppeltes Vergnügen.

Dass das renommierte Münchner Kammerorchester nicht jeden Abend Operndienst tut, war dem engagierten Spiel der jungen Instrumentalisten deutlich anzuhören. Auf die anregend intensive und detailgenaue Leitung von Stefano Montanari gingen sie unmittelbar ein, zauberten einen herrlich lichten wie technisch brillanten Klang zum barocken Bühnenspektakel. Herausragend die Beiträge der beiden Blockflötisten, voll mitfühlender Wärme die Soli aus der Violoncellogruppe. Und dem irdische Nebel abstreifenden Konzertieren der Oboistin hätte ich noch endlos zuhören können.

Das Happy End, selbst ohne Göttin Juno, konnte nicht wirklich als Schlusspunkt stehen bleiben. So umtriebig sie für sich und ihren Sohn gekämpft hatte, nun kann Agrippina in Ruhe sterben. Ohne Abschiedsarie, und doch präsent, mit einer vom Münchner Kammerorchester atemberaubend vorgetragenen Trauermusik, zu der sich die Jalousien des Herrscherhauses langsam schlossen.

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