Die Premiere von Richard Wagners „Meistersinger von Nürnberg“ fiel in der Deutschen Oper auf geteilte Meinungen.

Die erste Buh-Attacke kommt am Ende des zweiten Aufzugs aus dem Zuschauerraum. Zuvor hatte der edle Schuster Hans Sachs auf der Bühne seine Eifersucht ausgekotzt, seinen vermeintlichen Nebenbuhler unter den Meistersingern gedemütigt und schließlich dem von Eva geliebten Walther von Stolzing eine Flasche auf den Schädel geschlagen. Der brutale, zerstörerische Zug von Sachs missfällt offenbar einigen im Publikum. Stolzing überlebt erwartungsgemäß. Um es vorwegzunehmen, ganz am Ende des fast sechsstündigen Opernabends wird das Inszenierungsteam Jossi Wieler, Anna Viebrock und Sergio Morabito massiv ausgebuht.

Ritter Stolzing knutscht mit der Eva in Dr. Pogners Privat-Konservatorium

Dabei ist es eine raffiniert auserzählte und dramaturgisch stimmige Inszenierung von Richard Wagners „Die Meistersinger von Nürnberg“, die am Sonntag in der Deutschen Oper ihre Premiere erlebte. Aber sie spielt weder Mitte des 16. Jahrhunderts in Nürnberg, noch hat sie viel mit deutschtümelnden Zünften am Hut. Der verarmte fränkische Ritter Walther von Stolzing himmelt Eva im ersten Aufzug auch nicht in der Katharinenkirche an, sondern knutscht sich mit ihr durch einen holzgetäfelten Saal. Der gehört zu Dr. Pogners Privat-Konservatorium.

Der Patriarch Pogner will das Institut in die öffentliche Hand übergeben, sein Nachfolger soll durch ein öffentliches Wettsingen gekürt werden. Aber Pogner möchte schon noch seine Hand drauf behalten, weshalb seine Tochter Eva als künftige Ehefrau mit ins Spiel kommt. Albert Pesendorfer kann mit seinem sonoren Bass dem Veit Pogner eine große Präsenz ersingen. Der Wagner-Sänger wird wie die gesamte Solistenschar am Ende bejubelt.

Was der alte Pogner nicht weiß: Der am Institut angestellte und populäre Musikdozent und Physiotherapeut Hans Sachs hat ein Verhältnis mit Eva. Offenbar findet der Sex immer auf einer Yogamatte statt. Der Beziehung des Witwers mit der jungen Frau haftet aber auch etwas Ungutes an, wie das Musikkonservatorium strukturell ein MeToo-Fall zu sein scheint. Devot hat man gegenüber den Lehrern zu sein, einer umfasst seine Studentin eng, während er ihr in den Noten etwas erklärt.

Als Vorbild diente die holzgetäfelte Münchner Musikhochschule

Anna Viebrock sagte über ihr Bühnenbild, dass sie sich dafür viele Musikhochschulen angesehen habe. Schließlich wurde die holzgetäfelte Münchner Musikhochschule zum Vorbild, die in einem zwischen 1933 und 1937 erbauten Repräsentationsbau der NSDAP. ansässig ist. Der ehemalige „Führerbau“ ist für Viebrock ein toxischer Ort. Und vor einigen Jahren erst war dort ein Rektor wegen sexueller Nötigung und Vergewaltigung zu einer Haftstrafe verurteilt worden.

Das Inszenierungsteam zeigt 24 Stunden im Leben eines Meistersingers. Es ist eine Geschichte des Scheiterns, dabei betont die Inszenierung auch komödiantische Momente. Sachsens Meisterschüler David erfährt in der Rollengestaltung von Tenor Ya-Chung Huang eine liebenswürdige Jungenhaftigkeit, auch wenn es mit der Dozentin Magdalena (wunderbar: Annika Schlicht) nicht klappen will.

Beckmesser versagt als Regelwächter an der Tafel der Marker-Filzstift

Augenzwinkernd kommt auch Meistersinger Sixtus Beckmesser ins Spiel, als er als Merker das Probelied von Walther auf Regeltreue überwachen soll. Die weiße Tafel steht bereit. Aber in der Moderne kann vieles schiefgehen, diesmal versagt der Marker-Filzstift. Beckmesser klopft erst vorsichtig, dann hektisch genervt auf die Tafel. Das Inszenierungsteam meidet Deutungen, wonach Beckmesser eine Judenkarikatur des Antisemiten Richard Wagner sein könnte. Im Gegenteil: Charakterbariton Philip Jekal führt den Beckmesser nicht nur in einer schrillen, sondern auch suchenden Singweise vor. Es ist ein Mann, aus dem vieles herausdrängt, dem es aber nicht gelingt.

Als Beckmesser in der Aula am Flügel sitzend sein Ständchen für Eva vorführt, schläft das anwesende reifere Publikum nach den ersten Takten sofort ein. Aber die jungen Leute tanzen fröhlich nach Beckmessers schrägen Song. Heidi Stober bringt als Eva viel mädchenhaften Charme in Stimme und Spiel ein. Voller Intensität gelingt die Szene, als sie sich hin und her gerissen vom väterlichen Liebhaber Sachs loslösen will. Denn der tenoral alles überstrahlende Walther von Klaus Florian Vogt wartet bereits auf der anderen Bühnenseite. Er ist der umstrittene Newcomer im Konservatorium.

Das Orchester der Deutschen Oper trägt unter Leitung von Markus Stenz die Sänger mit Feingefühl. Dennoch erhält das Orchester am Ende auch Buhs. Bereits in der Ouvertüre bleibt das Pathetische zurückgenommen. Voller Akkuratesse wird das fast Kammermusikalische in der Partitur ausgespielt. Die Bläser sind großartig. „Ehret Eure deutschen Meister!“, fordert Hans Sachs im Finale. Aber die Fotografen sind bereits wieder weggeschickt worden, nachdem Walther die Pogner-Nachfolge ausgeschlagen und mit Eva das Weite gesucht hat. Pogner sinkt hilflos zusammen. Der stimmgewandte Hans Sachs von Johan Reuter übernimmt die Leere und schwört die verstörten Leute auf seine Weltsicht ein. Einige Meistersinger sind entsetzt, aber Sachs wird schnell auf den Schultern getragen. Ein neuer Populist scheint geboren zu sein.

Deutsche Oper, Bismarckstr. 35, Charlottenburg. Tel. 34384343 Termine: 18., 26., 29. Juni; 2. und 9. Juli